Freitag, 27. März 2015

Warum sehen sie so normal aus?


Auf dem Parkplatz an der Einfahrt zum Gelände des alten Rittergutes stellt Hannah ihr Auto ab. „Schule in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie“. Hier arbeitet sie seit vielen Jahren. Einige Jungen und Mädchen sind schon Zigarette rauchend in Richtung Schulgebäude unterwegs. Warum sehen sie eigentlich so normal aus, denkt Hannah. Ihre Lerngruppe besteht aus fünf  intelligenten jungen Menschen zwischen siebzehn und zwanzig Jahre alt. Punkt acht Uhr sitzen sie an ihren Tischen, die Blicke auf Hannahs Pult gerichtet. „Diderich Heßling – ein durchtriebenes Kind“ steht an der Wandtafel. Textausschnitte aus einem Roman von Heinrich Mann werden untersucht. Starker Vater, schwache Mutter, das Kind hat Lustgefühle, wenn der Vater es verprügelt, finden die Schüler heraus.
Kurz vor Ende der Deutschstunde wird die Tür des Klassenraums geöffnet. Stefan aus einer anderen Welt. Hannah wundert sich über sein Outfit, billige Jeans und Anorak. Ganz anders als während der Skifreizeit im Allgäu. Stefan mit großem Koffer und einem Schrank voller feinster Klamotten. Sie selbst hatte sich ein Kashmere Sakko für einen Restaurant Besuch bei ihm geliehen. Angeblich Geschenk seiner Mutter.
Hannah beendet die Unterrichtsstunde, formuliert eine Hausaufgabe und schickt die Schüler in die Pause. Stefan steht am Fenster Klassenraums und schaut in Richtung Schulgarten. So wird sie diesen hübschen Jungen in Erinnerung behalten. Später wird sie Bilder von der Skifreizeit betrachten und fest stellen, dass er auf fast allen ihren Fotos zu sehen ist. Stefan bei der Wanderung im Schneetreiben, Stefan im Lift und mit schwarz-weiß geschminktem Gesicht am Abschlussabend.

Dir geht’s schlecht, sagt Hannah.
Ich will wieder in die Schule.
Du kennst unsere Regeln. Wenn du clean bist, kannst du wieder am Unterricht teilnehmen.

„Diderich Heßlings Entwicklung zum Untertan“ schreibt Hannah am nächsten Morgen an die Tafel. Sie gibt den Schülern ein Arbeitsblatt mit Aufgaben und Hinweisen. Während die Gruppe arbeitet, klingelt das Telefon auf Hannahs Tisch.
Stefan ist tot. Er wurde in einem Stundenhotel in der Nähe des Dortmunder Hauptbahnhofs gefunden. Überdosis.

Renate Hupfeld am 24. August 2002  während des Arnsberger Kunstsommers im Workshop „Kurze Texte“ mit Michael Klaus 

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