Mittwoch, 14. Juli 2021

White Lady

Benommen irrte sie zwischen dichten Hecken umher und fragte sich, wie sie in diesen Garten gekommen war. Lieblicher Rosenduft stieg ihr in die Nase, aus einer Nische war leises Plätschern zu hören. Eine Katze, die auf dem Polster eines Korbsessels ausgestreckt lag, schenkte ihr ein müdes Blinzeln. Hinter der Terrasse befanden sich die Glaswände einer Schwimmhalle. Als sie eintrat, erschrak sie über die Stille, die sie plötzlich umgab. Schneeweiße Hibiskusblüten spiegelten sich auf der Wasserfläche.
Gab es denn nirgendwo einen Ausgang?
Auch der nächste Raum, in den sie gelangte, war unglaublich groß, eher ein Foyer, überspannt von einer Glaskuppel in schwindelnder Höhe. Schwere Polstermöbel in weißem Leder, gruppiert um einen Tisch, auf dem zwei Weingläser dicht nebeneinander standen. Und da hing ihre Jacke über der Sofalehne. Als sie das Handy in der Innentasche fand, dachte sie an Vanessa und wählte die Nummer. Zusammen mit ihr war sie im Einkaufscenter und in der Fußgängerzone gewesen. Dann waren sie im  ‚Barbados’ eingekehrt, hatten bei schummerigem Licht an einem kleinen Tisch gesessen, waren auch ein bisschen betrunken gewesen, hatten gestritten, wegen Jan mal wieder, und sie hatte sich an die Bar gesetzt. Filmriss. Was war danach geschehen?
Sie tat einen Seufzer der Erleichterung, als sie die Stimme ihrer Freundin hörte. Jetzt würde sich alles aufklären.
„Hier ist Melanie. Du musst mir helfen….Sauer? Ich dachte…Mit welchem Mann, um Gottes Willen?“
Aufgeregt lief sie zwischen Sofa und Vitrine hin und her.
„Wenn ich das wüsste! Bonzengegend, würde ich sagen. Villa mit  Pool und Park, Kamin aus weißem Marmor. So was hast du noch nicht gesehen. Luxus pur. Hörst du mir überhaupt zu? Ich hatte einen Blackout, kapier das doch!“
Vanessa glaubte ihr nicht. Enttäuscht ließ sie sich auf das Sofa fallen und versuchte, Licht in das Dunkel zu bringen. Ein Mann hatte sich zu ihr an die Bar gesetzt und ihr einen Cocktail spendiert. Kurz danach hatte sie mit ihm das Lokal verlassen. Einfach mitgegangen, wie ein willenloses Objekt. Sehr merkwürdig. Dann hatte sie die Nacht mit dem Fremden verbracht? So tief war sie gefallen?
Aber wo war der Mann? Vielleicht beobachtete er sie heimlich. Sollte sie so einem Psychopathen ins Netz gegangen sein? Aus dem Bistro gefischt und eingesperrt? Doch wohnten die nicht ganz bieder in Reihenhäusern, fesselten ihre Opfer und sperrten sie in Verliese? Der geheimnisvolle Unbekannte konnte sich diese Nobelherberge leisten, viel zu groß für einen allein. Vielleicht ein Manager, dem die Frau weggelaufen war, aus welchem Grund auch immer. Offensichtlich hatte er eine besondere Vorliebe für alle weißen Dinge. Das Kinderlied von den Farben kam ihr in den Sinn und wie gerne sie immer die eine Stelle gesungen hatte, von dem Schatz, der ein Schneemann war. Insgeheim musste sie lachen, wenn sie daran zurück dachte. So lustig das Lied.
Sie legte den müden Kopf auf das Polster und streckte die Beine aus. Nur nicht einschlafen, dachte sie. In dem Moment entdeckte sie in diesem großartigen Ambiente das Eingangsportal. Da war doch der Ausgang. Sie sprang auf, lief zur Tür und drehte an dem goldenen Knauf. Auf einem gepflasterten Weg zwischen dicken Baumstämmen rannte sie zum Tor, dann stand sie auf der Straße. Das war noch einmal gut gegangen, alles Weitere würde sich finden. Nie wieder einen Cocktail, von dem sie nicht wusste, was darin enthalten war, schwor sie sich und überlegte, wohin sie jetzt gehen sollte. Nach links führte die Straße in einen Wald, zur anderen Seite machte sie eine Kurve. Sie wandte sich nach rechts.
„Wohin, Lady?“
Melanie fuhr herum und starrte in ein grinsendes Gesicht. Der Mann packte ihren Arm.
„Fass mich nicht an!“
„Du musst nicht schreien.“
„Ich schreie so laut ich will.“
Sie versuchte sich loszureißen. Als das nicht gelang, wollte sie ihm mit der freien Faust auf die Nase schlagen, doch blitzschnell griff er wieder zu und hielt nun ihre beiden Arme umklammert.
„Dich hört hier keiner“, höhnte er sichtlich amüsiert und presste seine dicken Finger so fest in ihre Oberarme, dass sie vor Schmerz aufschrie.
„Was willst du von mir, du alter Sack?“
„Aber, aber.“
„Also, was soll diese Inszenierung? Lassen Sie mich gehen, bitte!“
„Viel besser“, erwiderte er.
Wie blödsinnig zu glauben, dass diese Masche bei ihm zog.
„Aber sag doch einfach Viktor“, fuhr er in seiner widerlich höhnenden Tonlage fort. „Du wolltest die Inszenierung, Lady. Du wolltest unbedingt hierher. Und wie Recht du hattest. Hier ist es schön. Komm zurück in mein Paradies.“
Die Freiheit schien zum Greifen nah, doch diese Ausgeburt von Hässlichkeit schleppte sie durch das Tor und schloss es ab.
„Komm, Lady“, schmeichelte er und packte ihre Hand. Sie musste mit, ob sie wollte oder nicht, und befand sich wieder unter der gläsernen Kuppel. Als er auch noch die Hauseingangstür abschloss und sie mit zusammengekniffenen Augen angrinste, kam sie sich vor, wie die Protagonistin in einem Psychokrimi. Sie war in seiner Hand, besser gesagt, sie steckte in der Falle.
Es fiel ihr schwer, einen klaren Kopf zu behalten. Der Mann war stärker als sie und unberechenbar. Wie sollte sie ihn überlisten? Wenn sie nur nicht so schlapp wäre! Dieses verdammte Teufelszeug. Irgendwann sollte doch die Wirkung nachlassen. 

Die Aquarien in der Schwimmhalle hatte sie beim Hereinkommen nicht gesehen. Verborgen hinter den Hibiskuspflanzen standen sie an der Wand neben der Bar.
„Schau sie dir an, diese exotischen Schönheiten. Wie sie schwimmen, so frei, so elegant. Wunderbar, vor allem die weißen, findest du nicht?“
„Doch, doch.“

„Piranhas fressen Skalare. Wusstest du das, Lady? Dieser hier liebt die weißen.“
„Nein, bitte nicht …“, flehte sie, als er die weiße Schönheit aus dem kleinen Becken fischte. Er hielt das Netz hoch und schaute zu, wie der Fisch sich wand. Als er nur noch leicht zuckte, ließ der Mann ihn langsam in das größere Becken gleiten. Es dauerte eine Weile, bis der Gequälte zu schwimmen begann. Und es dauerte wieder eine Weile, bis der große Schwarze langsam aus seiner Ecke kam und sich der weißen Schönheit näherte.
„Schau genau hin, Lady. Siehst du die Zacken?“
Verzückt blickte er in den gierigen Rachen.
„Wie spitz sie sind, die Beißerchen. Und scharf. Siehst du, was er macht?“
So stark der Sog.
Zu stark.
„Ein herrliches Skelett“, schwärmte er, als der Schwarze sein Werk vollendet hatte. „Wie es schwebt. Ich kann mich nicht satt sehen.“
„Schneeweiß“, hauchte sie.
„Ja, so schön weiß“, flüsterte er und seine Augen blickten böse.
Sie wollte weglaufen, doch die Beine gehorchten nicht.
„Was ist mit dir, Lady? Deine Händchen. Sie sind ja so kalt. Komm zu mir.“
Ganz steif wurde sie, als er sie an sich zog.
„Ich spiel es noch einmal für dich. Hörst du es?“
Your skin has turned to white, sang Cat Stevens.

Von ganz weit entfernt hörte sie die Gitarre.
„Lass uns tanzen, Lady.“
Als er sie mit seinen Armen umschlang, drückte sein massiger Körper ihr die Luft ab. Sie hatte Angst zu ersticken, atmete schwer.

„Nein, nicht…“

Ihre Stimme.
„Ja, so ist es schön“, flüsterte er.

„Nein…“

Warum versagte ihre Stimme?  

„Du zitterst ja. Das musst du nicht. Viktor ist doch bei dir. Lass uns schwimmen, Lady.“

Ganz leise sprach der Mann.
So still hier.
Zu still.

 

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Wenn wir von Liebe reden

 


 

Dienstag, 13. Juli 2021

Wem gehört die Pressefreiheit?

 



Die folgende Geschichte ist ein kleines Zeitfenster mit Blick hinter die Kulissen der ZEIT im Jahre 1953. Der Vorfall ist dokumentiert in Gerd Bucerius: Der angeklagte Verleger, Notizen zur Freiheit der Presse. Ich habe mir die Freiheit genommen ihn literarisch zu bearbeiten.

 

Wem gehört die Pressefreiheit?

 

Die ZEIT nicht interessiert an Anzeigen?

Unglaublich.

Lebensversicherungsplan in der ZEIT sehr schlecht besprochen?

Wer hatte diesen Artikel geschrieben?

Er sprang auf, rannte im Zimmer hin und her, lief zum Schreibtisch zurück, nahm den Telefonhörer und drehte die Wählscheibe.

Bevor sich in der Redaktion jemand melden konnte, knallte er den Hörer auf die Gabel, nahm das Schreiben aus der Postmappe und während er im Zimmer umherging, las er noch einmal den Text:

 

‚Sehr geehrter Herr Doktor Bucerius,

Herr Generaldirektor Werner übergab uns Ihren Brief vom 14. Mai des Jahres, mit dem Sie darum bitten, daß unser Haus seine Finanzanzeigen auch in der ZEIT veröffentlicht.

Nun hat die ZEIT  in ihrer vorletzten Ausgabe unseren neuen Lebensversicherungsplan 34c sehr schlecht besprochen. Ich nehme an, dass  Sie unter diesen Umständen auch an Anzeigen unseres Hauses nicht interessiert sind.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Albert - Generalsekretariat’

 

Gerd Bucerius holte tief Luft. Das ging entschieden zu weit.

Eine Frechheit war das.

Er setzte sich zurück an seinen Schreibtisch und dachte nach.

Nein, mit der Redaktion wollte er jetzt nicht reden. Völlig unwichtig, wer den Artikel geschrieben hatte. Hier musste er als Verleger reagieren. Was hatten Anzeigen mit journalistischen Inhalten zu tun? Diese Unverfrorenheit einer Unternehmung gehörte an die Öffentlichkeit. Einen Artikel für die nächste Ausgabe würde er darüber schreiben. Dann könnte jeder mit eigenen Augen lesen, wie korrupt hier ein Unternehmen versuchte, Einfluss auf die Presse zu nehmen.

Er schraubte den Füllhalter auf und notierte seine Gedanken:

Wie wird ein Presseorgan finanziert?

Was sind die Aufgaben eines Verlegers?

Welche Freiheiten haben Redakteure und wo sind ihre Grenzen?

Können Verleger ihren Redakteuren vorschreiben, was sie schreiben?

Können Anzeigenkunden Verlegern vorschreiben, was ihre Redakteure zu schreiben oder nicht zu schreiben haben?

Wem gehört eigentlich die Pressefreiheit?

Er schraubte den Füllhalter zu und legte ihn zur Seite. Ein Unternehmen öffentlich bloßstellen? Ein Bumerang wäre das. Ein Artikel war doch nicht der richtige Weg. Schlechter Stil und nichts als Ärger wäre die Folge. Im Übrigen wäre es auch nicht klug, zumal in der jetzigen Situation. Die finanziell angeschlagene ZEIT benötigte dringend jede Mark. Denn da blieb immer noch die drückende Frage: Wie kommt die ZEIT aus ihrem finanziellen Loch heraus?

 

Einen Termin machen mit dem Generaldirektor und dem Chef der Werbeabteilung? Ein Gespräch führen? In Ruhe die Gegenseite anhören und sachlich seinen Standpunkt darstellen? Keine Verquickung der Kompetenzen von Verlag und Redaktion.

Doch…eigentlich selbstverständlich in demokratischen Strukturen. Wegen einer Selbstverständlichkeit sollte er zu Kreuze kriechen? Auf gar keinen Fall würde er das tun. Es würde sich bei den Unternehmungen herumsprechen und man würde immer wieder versuchen, ihn und seine Mitarbeiter unter Druck zu setzen. Die ZEIT brauchte zwar Geld und musste Anzeigen verkaufen, aber nicht um jeden Preis.

 

Einige Tage später hatte er die Antwort formuliert und bat seine Sekretärin zum Diktat:

 

Sehr geehrter Herr Albert,

freundlichen Dank für Ihren Brief vom 20. Mai. In Ihrem Hause ist es nicht ganz klar, dass Redaktion und Anzeigenabteilung einer Zeitung scharf getrennt sind. Damit sich solche Mißverständnisse nicht wieder ereignen, habe ich die Anzeigenabteilung der ZEIT angewiesen, Anzeigen Ihres Hauses nicht mehr entgegenzunehmen.“

 

(Kursiv gedruckte Textstellen sind zitiert aus: Gerd Bucerius: Der angeklagte Verleger, München 1974, S. 14-15)

 

 

©Renate Hupfeld 11/2006