Mittwoch, 12. Oktober 2016

Novemberblues




Auf dem Weg über den Parkplatz flatterten mir die Blätter um die Beine, schön bunt, doch gar nicht lustig, verbesserten meine Laune keinesfalls. Die war nämlich grauer als grau. Dunkelstgrau. Der Blues. Ja, das war er, ließ sich nicht abschütteln. Andere hatten wenigstens um diese Jahreszeit einen Dämon, ich hatte nur diesen Blues in allen möglichen Facetten, musste jetzt womöglich wieder wochenlang mit ihm herumlaufen, mal dem Wetter-Geht-Mir-Auf-Den-Keks-Blues, dann dem Ist-alles-nicht-mehr-wie-früher-Blues und eben in diesem Moment mit dem Erinnere-mich-nicht-an-den-Tanz-Blues. Niemandem hatte ich die Gruselstory erzählt, mir würde sie ohnehin niemand glauben. Wie ich nur so dusselig sein konnte und dieser Ausgeburt von Raffinesse auf den Leim gehen, der Frau, die überhaupt nicht tanzen konnte und wie ein hölzernes Gerät über die Fläche geschoben, gezogen und gezerrt werden musste, selbst beim allereinfachsten Blues. Dieses Tanzgerät entpuppte sich als hinterlistiges Miststück, wollte mir weismachen, mich aus einem früheren Leben zu kennen, erzählte mir was von einem weißen Schimmel, den ich abends unter einer Weide am Fluss abgeholt hätte und auf dem ich fortgeritten wäre und behauptete, am Ende der Straße zu wohnen. Dort war jedoch kein Haus, wie ich eigentlich hätte wissen müssen, ich Depp. Und mir war es noch immer ein Rätsel, mit welchen Mitteln sie es geschafft hatte, mich an der Nase herumzuführen. Also, am Ende der Straße war nämlich der Friedhof. Dahin hatte sie mich gelockt, mitten in der Nacht. Naiv, wie ich war, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, auf das Gräberfeld zu schleichen, natürlich bei Vollmond, versteht sich. Über der Leichenhalle stand der und warf einen riesigen Schatten auf den Weg zwischen den Bäumen. Und da! Ich traute meinen Augen nicht. Vor dem Portal wartete schon ebendiese Bluestanzfrau auf mich, fixierte mich mit saugendem blauem Blick und schwebte auf mich zu. Wahnsinnig verlockend sah sie aus in dem sachte wehenden, silbrigglänzenden Gewand. Ihr Lächeln war hinreißend.
„Da bist du ja endlich“, flüsterte sie. „Wie ich mich nach dir gesehnt habe!“
Ein kalter Hauch berührte mich, als sie die Hände nach mir ausstreckte.
„Warum bist du hier?“, stotterte ich.
„Deinetwegen.“
Ich verstand nichts mehr.
„Von weit her bin ich gekommen.“
„Aber wir haben doch gerade erst miteinander ...“
„Ja, ja“, hauchte sie. „Es war so schön.“
„Ich verstehe nicht.“
„Lass uns fliegen.“
„Wie das denn?“
Mir wurde schwummerig. Wäre ich doch niemals hierher gekommen, auf diesen Gottesacker!
„Fliegen. Nur wir zwei“, fuhr sie fort.
„Du bist doch tot, sonst könntest du nicht … sonst wärest du nicht hier.“
Oder doch? Mich schauderte. Ich wollte weglaufen, kam aber nicht von der Stelle.
„Ich sehne mich nach deiner Wärme.“
Ganz leise war ihre Stimme.
„Umarme mich.“
Ich ging einen Schritt zurück.
„Drück mich an deinen Körper, bitte“, flehte sie und kam näher.
„Ich kann nicht.“
„Doch, du kannst.“
„Lass mich gehen!“, wehrte ich ab.
„Warum willst du vor mir fliehen?“
„Ich bin noch nicht so weit.“
„Begreife doch, mein Liebling.“
„Was soll ich begreifen?“
„Ich will dich nicht hinüberziehen. Du kommst freiwillig.“
„Nein, es geht nicht.“
„Wir werden glücklich sein.“
„Nein!“
„Lieben will ich dich, damit du nicht mehr traurig bist.“
„Was meinst du?“
„Nur ab und zu. Dann bin ich auch nicht mehr traurig.“
„Nein, nein. Ich muss jetzt gehen.“
Ich tastete mich rückwärts. Voller Sehnsucht sah sie mich an, folgte mir mit ausgestreckten Armen und ihrem unwiderstehlichen Lächeln. Je schneller ich mich fortbewegte, desto näher kam sie. Ich wagte nicht, mich wegzudrehen und ging Schritt für Schritt weiter, so schnell ich konnte, bis mein pochender Schädel an etwas Hartes stieß.
Das Friedhofstor.
Das verdammte Weib aus jener Sommernacht verfolgt mich doch noch immer, dachte ich.
Dabei kannte ich die Bluestanzfrau inzwischen ganz anders. Vom Esoteriktrip hatte ich sie heruntergeholt und sie hatte mir beigebracht, wie ich auch mit einer unbegabten Tänzerin Blues tanzen konnte.
Ich ging durch die Blätterallee, den Weg zwischen den Gräberreihen, den meine Beine schon fast automatisch machten, mit oder ohne die gelbe Gießkanne, denn gelb mochte sie, die üblichen grünen lehnte sie ab. Heute bei dem useligen Wetter also ohne Gießkanne. Am Wasserbecken vorbei nach links, drei Gräber weiter, dann wieder nach links zum weißen Marmorgrabstein mit dem Bild, oval gerahmt, wie sie es gewünscht hatte, nach ihren Vorgaben über dem dunkelgrauen Schriftzug platziert. Ja, die weißhaarige Frau da auf dem Foto war sie, wie sie leibte und lebte, hatte ja nur noch mich, ihren Augenstern, so nannte sie mich oft, das Beste, was ihr in ihrem Leben passieren konnte, das Allerbeste, ihr Eins und Alles. Ihr Lächeln sollte mir erhalten bleiben, ein Lächeln, das nie vergehen würde. Nur für mich. Unwiderstehlich.
„Wie läufst du denn wieder herum, Junge? Ohne Jacke. Du wirst dich erkälten. Zieh dich beim nächsten Mal warm an. Denk auch an den Schal. Du weißt doch, die kalte Jahreszeit hat’s in sich.“
„Ja, Mama.“
„Und deine Haare. Wie das aussieht! Geh mal wieder zum Frisör.“
„Jaha.“
„Gegessen hast du auch noch nichts. Ich sehe es dir doch an. Wie oft muss ich dir das noch sagen? Du treibst Raubbau mit deiner Gesundheit. Kein Gramm zugenommen hast du seit dem letzten Mal, eher sogar abgenommen, so blass, wie du wieder bist. Wann wirst du endlich erwachsen?“
Ich hatte ausgiebig gefrühstückt, mit Lachs, Käse, Schinken, Gürkchen, Tomaten, Radieschen und einem traumhaften Müsli. Nicht allein. Und das würde ich jetzt immer so machen. Immer so, wie ich das wollte. Genau so. Doch das musste ich ihr ja nicht erzählen.
„Schau, Mama, heute zünde ich drei Kerzen für dich an, damit du dich freust, okay?“
Sie blieb stumm.
„Dann bis zum nächsten Mal, Mama.“
Auf dem Weg zum Auto wurde der Grablichterblues in meinem Kopf immer leiser, bis er gar nicht mehr zu hören war.

Aus der Sammlung: Wenn wir von Liebe reden

Freitag, 7. Oktober 2016

Rebellen

Rebellen
(Schubart und Schiller auf der Festung Hohenasperg - 1782)

Nachdem der Wachsoldat die schwere Eisentür geöffnet hatte, erhob sich Schubart von seinem Lager und schlurfte leicht taumelnd zum Ausgang. Dann stand er auf dem Hof der Festung und blinzelte in das grelle Sonnenlicht. Die Kinder hatten bei seinem Anblick ihr ausgelassenes Spiel unterbrochen und beobachteten ihn aus einiger Entfernung. Kein Wunder, dass sie Angst vor ihm hatten, fühlte er sich doch selbst wie ein Ungeheuer, seitdem er hier gefangen gehalten wurde.
Er wankte über den Platz und blieb einen Moment lang im Schatten der alten Linde stehen, die Beine machten ihm zu schaffen. Es zog ihn um das Kasernengebäude herum auf den Wall. Dort würde er ungestört sein, hinter dem Turm mit dem Kerkerloch, seinem ersten Domizil hier auf dem Asperg, wo sie ihn weggesperrt hatten wie ein Stück Vieh im Käfig. Sechs Schritte hin, sechs Schritte zurück, Stunde um Stunde, dreihundertsiebenundsiebzig Tage und Nächte in Dunkelheit und modrig faulem Gestank. Gefangner Mann, ein armer Mann.
Doch immer noch war er nicht tief genug gefallen und musste dieses verpfuschte Leben weiter ertragen. Keuchend stieg er die Treppe hinauf auf das Plateau. Von hier aus ging der Blick auf grüne Weinfelder und idyllische Ortschaften. Freiheit, doch nicht für ihn. Er beugte sich über die Brüstung, tief hinunter ging es da. Könnte er sich doch einfach fallen lassen in diesen Abgrund, Erlösung für die Ewigkeit hätte er dann. Worauf wartete er? ‚Los, Schubart. Sei doch noch einmal mutig, ein allerletztes Mal’.
Nein, selbst dazu war er zu schwach. Helene und die Kinder kamen ihm in den Sinn. Irgendwo dort hinter dem Horizont warteten sie auf seine Freilassung, den fünften Sommer jetzt schon. Er konnte es sich immer noch nicht verzeihen, dass er trotz Helenes böser Vorahnungen leichtsinnig dem teuflischen Despoten in die Falle gegangen war. Wie hatte seine Frau ihn beschworen in der letzten gemeinsamen Nacht.
‚Ich weiß nicht, wie mir ist, Christian. Fahr nicht mit dem Amtmann nach Blaubeuren. Bleib in Ulm’.
Er setzte sich auf eine Mauer und wünschte, er könnte die Zeit zurückdrehen, Helene würde neben ihm sitzen und er könnte den Kopf an ihre Schulter legen. Hätte er nur dieses eine Mal auf sie gehört! Alles zu spät.
„Ich weiß nicht, wie mir ist, Helene“, schluchzte er und Tränen rieselten in seinen Bart.

Als er eine Weile so gesessen und vor sich hingebrütet hatte, hörte er Schritte. Ein großgewachsener Jüngling stapfte den Hügel hinauf und kam auf ihn zu. Seine Haare glänzten rötlichgolden im Sonnenschein. Schubart erkannte gleich das herzerfrischende Lächeln des Regimentsmedikus, Verfasser der Räuber, mittlerweile bekannt bin in den letzten Winkel.
„Schiller“, rief er. „Das ist eine Überraschung. Ist Er den langen Weg von Stuttgart hierher gewandert?“
Der junge Mann setzte sich neben ihn auf die Mauer und wischte sich mit dem Hemdärmel den Schweiß von der Stirn.
„Da staunt Er, was? Von der Wache habe ich erfahren, dass Er sich am Belvedere aufhält, einen wirklich schönen Ausblick hat Er hier.“
„Aber keine Freude.“ Schubarts Stimme klang rau.
„Er sieht jetzt besser aus, als bei meinem Besuch im November. Nicht mehr gar so grau im Gesicht“, fuhr Schiller fort.
„Er will mir nur schmeicheln. Aber Er weiß ja nicht, wie einem Ausgestoßenen zu Mute ist. Ein kranker Mann bin ich. Zu schwach zum Leben, zu schwach zum Sterben. Und Er? Man hört einiges Gemunkel.“ Fragend schaute Schubart den jungen Dichter an.
„Er hat richtig gehört. Der Herzog hat mir verboten, künftig etwas ohne seine allerhöchsteigenhändige Zensur drucken zu lassen. Dass ich ohne Urlaub in Mannheim zur Aufführung der Räuber war, ist ihm verraten worden, die Weiber können’s Maul nicht halten.“
„Schreiben darf Er aber noch?“
„Er schreibt keine Komödien mehr, hat Serenissimus gedroht. Andernfalls lass ich Ihn auf die Festung setzen und Seinen Vater lass ich vom Brot bringen.“
„Und was will Er jetzt tun?“
„Nun, in der Pfalz habe ich dergleichen nicht zu fürchten.“
„Was will Er denn damit sagen?“
„Er muss nur verschwiegen sein.“
„Aber Schiller.“
„Nun, da ist meine Bekanntschaft mit Dalberg. Ich habe Aussicht, Theaterdichter in Mannheim zu werden.“
„Hofpoet. Dann könnte der fürstliche Landesvater Ihn ja entlehnen wie den italienischen Hofpoeten kürzlich, eine Menge Gulden hat er dafür gezahlt. Nur, dazu müsste Er nicht Schiller heißen, sondern Schilleri oder noch besser Schillerieri.“
„Und französisch parlieren, nicht etwa deutsch wie ‚deutlich’“, fiel Schiller ein. „Aber Scherz beiseite, mit dem Herzog ist nicht zu spaßen.“
„Selbst im Ausland ist Er vor nicht sicher vor Verfolgung. Schau Er mich an.“
„Ach, Schubart, ich schau Ihn ja schon die ganze Zeit an. Das Unrecht hier auf dem Asperg muss ein Ende haben. Seine Chronik, Er hat doch nur die Wahrheit gesagt. Ein Meister des Wortes ist Er und hier eingekerkert und mundtot gemacht. Alles gewagt hat Er. Sieh Er hier.“ Schiller zog ein gedrucktes Schriftstück aus der Hemdtasche. Dann rezitierte er weit ausholend mit großem Pathos in die liebliche Landschaft hinaus.
Da liegen sie, die stolzen Fürstentrümmer …“
Die Fürstengruft“, winkte Schubart ab. „Nichts als Ärger hat’s gebracht. Alles gewagt, alles verloren.“
„Fürstentrümmer“, wiederholte Schiller mit Nachdruck. „Ich trage sie überall bei mir. Der Tyrann in seiner Gruft. Nicht nur Er hat diese Vision. Im ganzen Lande schätzt man seine Verse, nur die Obrigkeit nicht. Das menschliche Herz muss siegen.“
Das menschliche Herz. Eine Weile hingen beide Männer ihren Gedanken nach, bis der Gefangene unruhig wurde. Ein Wachsoldat war auf den Wall gekommen und schaute in die Ferne. Mit zitternden Händen zog Schubart eine silberne Taschenuhr aus der Rocktasche und hielt sie sich vor die Augen.
„Die Zeit ist um, lieber Freund, ich muss zurück hinter Schloss und Riegel.“
Schiller reichte dem Älteren die Hand und half ihm beim Abstieg auf den Festungswall. Langsam gingen sie im Schatten der hohen Mauern hinunter zum Tor.
„Ich hoffe, dass ich Ihn recht bald wiedersehe, Schubart. Aber in Freiheit. Wenn ich erst in Mannheim bin, sorge ich dafür, dass Er frei kommt.“ Das klang sehr zuversichtlich aus dem Munde des jungen Stürmers.
„Am besten schickt Er eine ganze Räuberbande auf den Asperg herauf.“ Schubart lachte bitter. „Nein, nein, Schiller. Sieh Er erst einmal selber zu, dass Er seine Haut rettet. Noch hat Er Träume.“
Lange hielten sie sich in den Armen, bis der junge Stürmer sich abwandte und mit festen Schritten die Festung verließ.


(Die kursiv formatierten Textstellen sind Zitate aus Gedichten von Christian Friedrich Daniel Schubart: Kaplied, Der Gefangene, Frage, Die Fürstengruft)

Aus der Sammlung: Wenn wir von Liebe reden