Mittwoch, 28. September 2016

Achtundvierziger






Achtundvierziger
(Mit der Zeitmaschine aus der Zukunft in das Jahr 1848)

Nebelschwaden waberten über den See und tauchten die kahlen Bäume der Uferpromenade in ein diffuses Novembergrau. Wir gingen den alten Leinpfad entlang, auf dem zu früheren Zeiten Pferde geführt wurden, um die Schiffe flussaufwärts zu ziehen. Der richtige Tag, um eine Reise in den Frühling zu machen. Mein Ziel war Frankfurt an einem Märztag zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, Krönung der Recherchen für meinen Roman, in dem es um die Liebesgeschichte eines Abgeordneten der Nationalversammlung mit einem Mädchen aus dem Volke gehen sollte.  Würde ich sogar den einen oder anderen Protagonisten des Jahres 1848 treffen, vielleicht Robert Blum davor warnen nach Wien zu gehen oder Friedrich Hecker zu mehr Vorsicht raten?
Jannis begleitete mich auf dem Weg zum Check-in im Seaside Center. Er hatte mir diese Reise zum dreißigsten Geburtstag geschenkt. Hand in Hand stapften wir durch die raschelnden Blätter.
„Wer hätte gedacht, dass sich die Technik so rasant entwickeln würde?“, sinnierte er. „Hast du gar keine Angst, Maleen?“
„Bisher ist doch noch jeder in seine Zeit zurückgekehrt.“
„Ganz wohl ist mir nicht bei dem Gedanken, dass du diese Reise allein machst. Es waren unruhige Zeiten damals. Ein falsches Wort kann böse Folgen haben.“
„Mein ängstlicher Liebling. In jenen Märztagen war die Stimmung in Deutschland so entspannt wie danach lange nicht mehr. Sei unbesorgt. Im Übrigen bin ich keine Revolutionärin.“
„Sondern eine junge Frau aus dem Volke, ich weiß. Dennoch kann es ohne männliche Begleitung gefährlich werden. Sei nicht zu…ich meine…“
„Kokett? Wo denkst du hin?“
Wir erreichten das Time Travel Terminal im Seaside Center.
„Machs gut, Maleen. Ich warte hier im Café auf dich.“
„Wenn dir langweilig wird, kannst du in der Zeitkapsel unter geriatric32 nachlesen, wie meine Großmutter die Erfindung des World Wide Web erlebt hat, 1994 war das.“
„Mach ich, Liebes, schon allein, weil du in dem Jahre geboren bist.“
Janis drückte mich an seine Brust, langer Abschiedskuss, heftiges Herzklopfen.

„Ihr Time Train geht in fünfundvierzig Minuten“, sagte die Dame und gab mir einen silbern glänzenden Chip, ‚ttt’ stand darauf.
„Ich bringe Sie in die Zeitschleuse“, sagte sie und führte mich in einen Raum, der wie die Umzugskabine einer Sporthalle wirkte. „Passende Kleidung finden Sie auf dem Kleiderständer. Verschließen Sie Ihre Sachen einschließlich Geldbörse, Armbanduhr und Communicator in dieser Box.“ Sie wünschte mir noch eine gute Reise und ließ mich allein.
Nachdem ich mich ausgezogen hatte, streifte ich zunächst eine weiße Leinenunterhose und ein Unterhemd über, ein bisschen groß, aber ich würde mich daran gewöhnen. Den langen braunen Rock hielt ich mit einem Gürtel auf der Hüfte. Darüber zog ich eine hübsche beigefarbene Leinenbluse und drapierte mir ein großes hellblaues Tuch um die Schultern. Die Box verschloss ich mit dem Chip und verließ mit Knöpfstiefeln an den Füßen die Zeitschleuse durch die andere Tür.
In diesem Raum wartete ein Mann mit ‚ttt’ Plakette an der Brust auf mich. Er überprüfte mein Outfit und war sichtlich zufrieden. Dann gab er mir einen kleinen Lederbeutel mit Schnüren und eine wunderbare altertümliche Taschenuhr.
„Dieses Gerät zeigt nicht nur die Uhrzeit an, sondern es ist auch ihr Navigationssystem für die Reise“, erklärte er.
Als ich meinen Chip in den Schlitz an der Seite des Uhrgehäuses steckte, leuchtete das Display auf. Ich befestigte den Lederbeutel am Gürtel und ließ die Uhr hineingleiten.
„Sind Sie bereit?“
„Ja“, antwortete ich mutig.
Er führte mich durch einen schmalen Gang, der in einer schwach beleuchteten Kabine endete, gerade groß genug für den schwarzen Sitz mit hohen, steilen Lehnen. Wie ein Käfig sah das Ding aus. Ich setzte mich hinein.
„Achtung!“ Im gleichen Moment wurde ich so heftig eingezwängt, dass ich mich keinen Millimeter mehr bewegen konnte. Meine Arme, Schultern und Beine wurden mit ruckartigen Bewegungen von allen Seiten fixiert. Unerträglich eng war es. Ich fürchtete eingequetscht zu werden. Dann bekam ich auch noch etwas über den Kopf gestülpt, das sich anfühlte wie ein Motorradhelm und sich langsam so eng um meinen Schädel schloss, dass es ihn zu zerdrücken drohte. Panik machte sich breit, das Atmen fiel mir schwer. Ich konnte nur noch den Mund bewegen und die Augen rollen, was ich auch ständig machte. Wie sollte ich hier jemals wieder heraus kommen? Ehe ich noch weiter darüber nachdenken konnte, begann der Sitz zu vibrieren, erst sachte, dann immer heftiger. Die Vibration ging in eine Drehbewegung über, rasend schnell rotierte ich, begleitet von psychedelischem Flackern in unbeschreiblich schneller Folge. Als ich dann auch noch wie in einer rasanten Achterbahnfahrt steil hinauf und im freien Fall hinunter befördert wurde, bei gleichzeitig unglaublich schneller Rotation, immer wieder, endlos lange, wurde mir kotzübel.

Eine Hand streckte sich mir entgegen und half mir hinaus. Ich konnte kaum stehen.
„Alles okay?“ Die Stimme gehörte zu einem gut aussehenden Mann mit dunklen, halblangen Haaren und ttt-Anstecker.
„Geht schon.“
„Folgen Sie den Anweisungen auf dem Display, dann kann nichts schief gehen.“
Der Ausgang führte in ein Dickicht aus Sträuchern und Bäumen. Nach einer halben Stunde verließ ich den Waldpfad und stand auf einer Anhöhe.
Meine Augen gewöhnten sich langsam an die helle Morgensonne. Frühlingsgrüne Wiesen und blühende Bäume breiteten sich vor mir aus. In einiger Entfernung lagen links und rechts des Flusses die Häuser der Stadt Frankfurt. Die beiden Ufer des Mains waren verbunden durch die majestätische Steinbrücke mit der markanten Bogenreihe, wie ich sie von historischen Abbildungen kannte. Auf dem Fluss wimmelte es von Dampfschiffen, Segelbooten und Kähnen. Menschen pilgerten von Anlegestellen her hinauf in die Stadt, wo der mächtige Turm des Domes in den strahlend blauen Himmel ragte.
‚10:16’, stand auf dem Display und darunter: ‚Jetzt haben Sie sechs Stunden und 44 Minuten zu Ihrer freien Verfügung’.
Siebzehn Uhr musste ich also zurück sein. Nachdem ich die Taschenuhr im Lederbeutel verstaut hatte, ging ich in östlicher Richtung auf einem holprigen Pfad und erreichte die ersten prächtig geschmückten Häuser. Es war eng auf dem Kopfsteinpflaster der Straßen und Gassen. Ich bewegte mich mitten im Strom der Menschen, wurde eingehakt, freundlich angelächelt und einfach mitgezogen. Die Stimmung war überwältigend. Freiheit lag in der Luft, Freude auf den Gesichtern.
Wir erreichten den Platz vor dem Römer. An den imposanten Gebäuden wehten schwarzrotgelbe Fahnen im Sonnenschein. Hier standen die Männer der Nationalgarde in ihren blauen, gold geschmückten Uniformen und die Jungen der Turnergarde ganz in Weiß mit breitkrempigen Hüten, bereit zum Spalier für den Zug der Abgeordneten.
Ich ließ mich mit treiben in Richtung Paulskirche, wo die klügsten Köpfe des Volkes für Demokratie und Pressefreiheit kämpfen würden. Vor einer Art Holzbühne versperrte mir eine Ansammlung von überwiegend jugendlichen Zuhörern den Weg. Ihre Augen hingen am Mund eines Redners, der mit seinen langen blonden Haaren und den ausdrucksvollen Augen nicht nur glänzend aussah, sondern mit einem Feuer sprach, dem auch ich mich nicht entziehen konnte.
„Er sieht aus wie Christus“, sagte eine Frauenstimme hinter mir.
„Hecker ist der Beste. Hecker, Hecker“, rief einer und alle stimmten ein.
„Das Heckerlied …“, tönte es in der Menge und im Nu war ein gemeinschaftlicher Gesang im Gange.
Eine Mandoline ertönte dazu.
Bei der zweiten Strophe konnte ich den Refrain mitsingen:
„Er hängt an keinem Baume,
Er hängt an keinem Strick,
Sondern an dem Traume
Der deutschen Republik.“
Viele begannen wie wild zu tanzen. Eine junge Frau nahm meine Hände und ich wirbelte glücklich mit, immer rundherum. Lauter wurde der Gesang, schneller der Takt. Es war wie ein Sog, der mich unwiderstehlich mitriss. Wir bekamen nicht genug vom Singen und Tanzen.
Urplötzlich durchfuhr es mich wie ein Blitz: Mein Lederbeutel war verschwunden. Ich erstarrte, suchte hektisch mit den Augen den Boden ab, befühlte Rock und Gürtel. Nichts.
„Was hat dir denn den Tanz vergällt?“, fragte ein junger Bursche mit Federhut.
„Mein Lederbeutel…verschwunden und meine...“
Er half mir beim Suchen und ging sogar mit mir den mühsamen Weg gegen den Menschenstrom zurück zum Römerberg. Es war aussichtslos. Wie sollte ich in diesem Gewirr von Beinen und Füßen mein Navigationsgerät finden? Die ganze Zeit redete der Federhütler auf mich ein, doch ich reagierte gar nicht mehr und irrte weiter durch die Menge.
Was sollte ich nur tun?
Wie von fremder Hand gezogen, ging ich den Weg aus der Stadt hinaus. Dabei suchte ich unentwegt den Boden ab. Das verdammte Ding blieb verschwunden. 
Die Sonne stand schon im Westen, als ich die Anhöhe hinaufging. Der Wald schien undurchdringlich. Ohne Orientierungshilfe würde ich niemals den Weg zurückfinden. Und kein Mensch weit und breit konnte mir helfen. Ich setzte mich auf einen Baumstamm und weinte.

Jemand klopfte mir ungeduldig auf die Schulter. „Hallo“, klang es hektisch an mein Ohr. Ich schaute hoch. Es war der hübsche Dunkelhaarige vom Timetrain, bekleidet mit brauner Hose und Leinenhemd.
„Hier, nehmen Sie.“ Er drückte mir meinen verlorenen Schatz in die Hand. „Kommen Sie schnell. Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es.“
Wir hetzten los und atemlos erzählte er, wie ein Alarmsignal bei ihm angekommen und er in die Stadt gerannt wäre. Sein Navigationsgerät hätte ihn zu einem Burschen mit Federhut und meiner Taschenuhr in der Hand geführt. Plötzlich hätte das Ding so heftig vibriert, dass er es auf den Boden geschmissen und mit schreckgeweiteten Augen angestarrt hätte. Danach wäre der Bursche weggerannt.

„Und du konntest nicht verhindern, dass der böse Friedrich drei Wochen später in die Fänge seiner Verfolger geriet?“, fragte Jannis, nachdem ich ihm von meiner wunderbaren Rettung erzählt hatte.
„Hecker meinst du. Daran habe ich gar nicht mehr gedacht. Ohne Chip war ich nur noch verzweifelt“, musste ich beschämt zugeben.
„Man kann dich wohl doch nicht alleine so eine Reise machen lassen, Maleen“, meinte er. „Wenn du deinen Achtundvierziger Roman im Netz hast, reisen wir gemeinsam in die Neunundachtziger: ‚Wir sind das Volk’.“

(Die kursiv formatierten Textstellen sind Zitate aus dem „Heckerlied“, überliefert aus dem Jahre 1847.)

Aus der Sammlung: Wenn wir von Liebe reden


Bildquelle: Die Alte Brücke 1845 (Stahlstich von Jakob Ludwig August Buhl nach Vorlage von Jakob Fürchtegott Dielmann)


Montag, 12. September 2016

Das weiße Flackern



Kaum jemand verirrte sich hierher zwischen die schwarzen Gesteinsbrocken; Überreste eines Vulkanausbruchs, die den Strand zu einem unwirtlichen Ort machten. Irgendwo da oben war der Lavastrom vor Jahrzehnten herausgeschleudert worden und hinunter geflossen bis ins Meer. Hier war sie allein mit dem Felsriesen, der dunkel gezackt in den Himmel ragte und die Bucht zum Süden hin abgrenzte, angelockt von der Verheißung einer unendlichen Weite hinter dem Horizont. Es fiel ihr jedoch schwer, den Blick abzuwenden vom beharrlichen Spiel der Brandung, deren Gischt immer neue Muster in den schwarzen Sand zeichnete. Der Morgen war noch jung, und ihr war einen Moment lang, als wäre der Dämon der vergangenen Nacht gefangen im Wirbel der Wellen, die in unermüdlichem Gurgeln, Sprudeln und Klatschen die großen und kleinen Steine umspülten. Noch einmal war sie davongekommen, als hätte die Sonne sich ihrer erbarmt, sie erlöst vom Platz am Rande des Kraterabgrundes.
Doch Erlösung gab es nicht. Die frischgrünen Reben im Sonnenwald waren erschlafft, der einst so würzige dunkelrote Wein fade und blass geworden. Nichts konnte sie trösten, nichts sie mehr erfreuen. Unerträglich der Gedanke an die Zähigkeit des bevorstehenden Tages, an eine weitere Nacht der Abgründe. Wozu noch kämpfen? Sie war verloren.
Und doch war da noch immer die Frage. Warum?
Wie konnte es so weit kommen? Wo war ihr Mut geblieben?
Suche nicht nach Erklärungen, flüsterte der Wind. Lass dir nichts vorgaukeln. Er zieht dich heran, um dich wegzustoßen. Immer wieder macht er das. Du hast ihm vertraut, wurdest weggestoßen, hast ihm wieder vertraut, wurdest wieder weggestoßen, immer wieder mit sanfter Stimme umschmeichelt, immer wieder vertraut, immer wieder verletzt. Dein Vertrauen hat er mit großer Geste weggeschleudert, deine Liebe sinnlos verschwendet. Alles hast du ihm gegeben, bis auf den letzten Tropfen, zuerst mit Leidenschaft, später dann, weil du an ihm festklebtest. Verknotete Gefühle entwirren? Vergiss es. Du hast nichts zu verlieren.
Ihr blieb keine Wahl. Komm, schwarzer Dämon. Leg die Maske ab. Du bist hell und süß. Zeige mir den Weg. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Eine unglaubliche Stille umgab sie. Selbst die Brandung hatte ihr Rauschen eingestellt. Einen Moment lang die friedliche Ruhe genießen, dann losgehen, einen Schritt, einen weiteren und noch einen, bis der Boden weich wurde und nachgab. Dunstschwaden strichen über ihr Haar und zogen an ihr vorbei. Mit leichten Schritten ging sie zwischen Schlingpflanzen, die ihr den Weg frei machten, sobald sie sich näherte. Plötzlich wurde der Nebel so dicht, dass sie nichts mehr sah. Sie blieb stehen. Verschwunden das Grün, selbst ihre Hände und Füße waren nicht mehr zu sehen. Wo war oben und unten? Und was war das? Hatte jemand sie berührt? Sie horchte.
„Du brauchst Hilfe?“
„Ja, ja“, sagte sie eilig.
Doch zu wem gehörte dieses Stimmchen? Erst nach einer Weile des angestrengten Hinsehens erblickte sie eine kleine kugelförmige Gestalt, durch deren transparente Oberfläche es vom Boden her kupfern blinkte.
„Hallo“, sagte das Geschöpf.
„Hallo, kleines Kerlchen. Was tust du hier so mutterseelenallein?“
„Ich habe gewartet.“
„Auf wen?“
„Ich habe gewartet, um dich auf den richtigen Weg zu führen.“
„Wusstest du denn, dass ich hierher komme?“
„Du hast gefunkt.“
„Ach, ja?“
„Du hast mich gerufen, weil du Hilfe brauchst. Allein findest du aus diesem Nebelwald nicht heraus.“
Wie Recht das seltsame Wesen hatte!
„Folge mir“, sagte es und ging voraus, wobei sich herausstellte, dass es sich mit seinen kleinen Füßen erstaunlich schnell vorwärts bewegte. Sie blieb dicht hinter ihm.
Plötzlich war der blinkende Winzling verschwunden. Stattdessen sah sie ein Flimmern, das sich in ein weißes Flackern verwandelte. Eine ungeheure Kraft zog sie mitten hinein in diese Lichtflut. Von tausend und abertausend Blitzen wurde sie überwältigt, die in so schnellem Stakkato auf sie einschossen, dass ihr schwindlig wurde. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden.
„Alles okay?“
Ein Mann, über sie gebeugt.
„Was tun sie hier? Es gibt bessere Orte als diesen. Kommen Sie, ich helfe Ihnen. “
Mit Hilfe seiner hingestreckten Hand rappelte sie sich auf.
„Hier ist Ihr Brief. Sicher von Ihrem Mann. Zwischen den Steinen hab ich ihn gefunden. Der Wind hatte ihn weggeweht.“
„Er hat ihn nicht weit genug geweht.“
Sie zerriss den Umschlag und schleuderte die Schnipsel hinter die Brandungswelle.
„Verdammter Lügner!“, brüllte sie in die Gischt und schaute zu, wie die weißen Fetzen auf den Wellen tanzten und immer kleiner wurden, bis nichts mehr von ihnen zu sehen war. Ihr Helfer stand noch immer neben ihr und sah sie so verdattert ansah, dass sie unwillkürlich losprusten musste.