Mittwoch, 24. Dezember 2014

Folgt dem Stern


Vor mehr als zweitausend Jahren herrschte Kaiser Augustus in Palästina. Eines Tages befahl er, dass sein Volk gezählt würde. Alle Einwohner des Landes mussten in die Stadt kommen, in der sie geboren waren.
Auch ein Mann namens Josef folgte diesem Befehl des Kaisers. Zusammen mit seiner Frau Maria, die hochschwanger war, wanderte er den langen Weg von Nazareth nach Bethlehem.
Als die beiden dort angekommen waren, kündigte sich die Geburt an. Sie suchten eine Herberge. Nichts zu machen. In Bethlehem gab es kein freies Zimmer. Endlich fanden sie Schutz in einem Stall bei den Tieren.
In dieser Nacht brachte Maria einen prächtigen Jungen zur Welt. Vater und Mutter wickelten das Kind in Windeln, legten es in eine Futterkrippe und deckten es warm zu.
Genau zu der Zeit waren Hirten bei ihren Tieren auf dem Feld, als plötzlich ein ganz helles Licht am Himmel aufleuchtete. Die Männer bekamen große Angst und hätten sich am liebsten versteckt. Doch wo? Da war keine Hütte, nicht einmal ein Strauch, nichts, nur Feld.
„Fürchtet euch nicht“, sagte eine Stimme.
Sie schauten hoch. Am Nachthimmel schwebte plötzlich eine seltsame Erscheinung.
„Ich verkündige euch eine große Freude. Ganz in der Nähe wurde heute Nacht ein Kind geboren, ein besonderes Kind. Es wird euch befreien von allem Übel und Frieden bringen.“
Dann war alles wie vorher.
„Was war das?“, fragte einer.
„Ein Engel war das. Irgendwas Außergewöhnliches muss passiert sein. Schaut dort der Stern“, sagte Johannes, der Älteste der Hirtengruppe.
„Vorhin war der noch nicht da.“
„Stimmt. Über Bethlehem steht er.“
„Lass uns hingehen und schauen, was es mit dem Versprechen des Engels auf sich hat.“
„Was könnten wir besser gebrauchen als Freude und Frieden?“
„Kommt Leute, wir wandern zu dem Stern“, sagte Johannes.
Da machten sich die fünf Hirten auf den Weg. Johannes ging voran. Der Stern stand über einem Stall auf einer Wiese. Vorsichtig öffneten sie die schwere Holztür und tatsächlich. Dort lag das kräftige Neugeborene in einer Krippe, rechts und links die glücklichen Eltern. Ein Bild der Freude und des Friedens. Hatte der Engel doch Recht gehabt.
„Wir kommen, um eurem Kinde unsere guten Wünsche zu bringen. Es steht unter einem ganz besonderen Stern. Dürfen wir es anschauen?“ fragte Johannes.
Die Eltern nickten und die Männer gingen zur Krippe. Sie konnten gar nicht aufhören den Kleinen anzusehen.
„Wirklich, ein ganz besonderes Kind. Es ist, als ginge ein Leuchten von seinem Gesicht aus.“
 Voller Stolz schaute der Vater auf seinen Sohn und die Mutter lächelte glücklich.
„Er wird uns allen große Freude und Frieden bringen, so wurde uns versprochen.“
Nachdem die Hirten das Kind lange genug betrachtet hatten, legte jeder von dem wenigen, das er besaß, ein kleines Geschenk neben die Krippe, ein Halstuch, ein Stückchen Brot, eine Mütze, einen kleinen Krug mit Wein und Johannes legte seinen Hirtenstab dazu. Dann gingen sie hinaus in die Nacht.

© Renate Hupfeld

Foto: Renate Hupfeld am 17. Dezember 2014 in Köln auf dem Weihnachtsmarkt am Dom

Sonntag, 30. November 2014

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Donnerstag, 30. Oktober 2014

Lisa am See



Wir befanden uns auf einem wahnsinnig schmalen Pfad entlang einer Felswand, als Lisa sich plötzlich umdrehte, kreidebleich, nach meiner Hand griff und versuchte, sich an mir festzuhalten. „Hilf mir, Martin, ich kann nicht weiter.“
„Bleib ganz ruhig, bitte. Kopf hoch und geradeaus schauen.“
Saugefährlich war die Situation. Da stand ich nun mit Lisas zitternder Hand in meiner und hatte plötzlich selbst Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Links ging es fast senkrecht hinunter und rechts gab auch keinen Halt. Ich machte das, was ich ihr geraten hatte, schaute nach vorne.
„Pass auf, Lisa. Wenn ich jetzt deine Hand loslasse, gehst du ganz vorsichtig einen Schritt, okay?“
„Kann ich doch nicht.“
„Kannst du, mach nun.“
„Hilfe“, schluchzte sie und fing richtig an zu heulen.
„Jetzt reicht’s“, brüllte ich. „Sollen wir beide in den Abgrund stürzen? Geh! Sofort!“
Ich atmete auf, als sie meine Hand losließ und ein Schrittchen wagte.
Was war nur mit ihr los? Niemals hätte ich mit derartigen Schwierigkeiten gerechnet, als ich diese Tour mit ihr plante. Beim Skifahren war ihr kein Berg zu hoch und kein Hang zu steil. Was war denn im Sommer anders?
Gottlob war diese Felsumrundung irgendwann zu Ende und Lisa bekam ihre Panik in den Griff. Wir mussten noch einen Gebirgsbach überqueren, indem wir von Stein zu Stein sprangen, und ein ziemlich ausgedehntes Geröllfeld mit einigermaßen erträglichem Gefälle. Immerhin kamen wir mit heilen Knochen oben am See an, unserem Übernachtungsziel. Die Hochalm hatten wir ganz für uns alleine. Schweigend lagen wir im Gras zu Füßen des Felsmassivs, das wir in zwei Tagen umwandern wollten. Zunächst stand die Sonne noch über den beiden Gipfelzacken. Doch als sie plötzlich hinter dem Berg verschwand, lag unser schönes Plätzchen im Schatten. Es wurde sofort kühl und wir bauten unser kleines Zelt auf. Lisa hatte sich nach dem Aufstieg erstaunlich schnell erholt und half mir.
„Mach es dir schon mal drinnen bequem. Ich hole Wasser und dann gibt es Tee“, sagte ich, nahm meine Feldflasche und ging los. Nach Informationen im Wanderführer sprudelte aus den Felsen eine Quelle in den See. Es war ein Stückchen zu laufen, doch ich fand keine Wasserstelle, auch nicht, als ich über Gesteinsbrocken ein Stück nach oben kletterte. Ich horchte.  Da war auch kein Plätschern zu hören. Einige Meter über mir begann schon der Gletscher und ich entdeckte den Eingang zu einer Höhle. Ein weißes Gebilde hing von der Decke herunter, vielleicht ein Eiszapfen, doch konnte ich das aus der Entfernung nicht genau erkennen. Jedenfalls war das wohl eine der Eishöhlen, von denen der Mann in der Dorfkneipe erzählt hatte, in der wir den Abend vorher verbracht hatten. Eine wahre Horrorstory übrigens. Die Quelle fand ich jedenfalls nicht, hörte auch kein Plätschergeräusch. Seltsam war das schon, denn eigentlich müsste die in der Nähe sein.  Doch was sprach dagegen, wenn ich glasklares Wasser aus dem See schöpfte?
Mit gefüllter Feldflasche ging ich zurück zum Zelt, blieb davor stehen und schaute mich noch einmal um. Die Felsspitze war jetzt in Dunst eingehüllt, der Mond als milchiger Fleck zu erahnen. Es begann leicht zu schneien. Ja, in diesen Höhen war wettermäßig alles möglich. In kürzester Zeit legte sich ein weißer Schleier auf Zelt und Umgebung.
„Bist du es, Martin?“
„Ja.“
„Hast du die Quelle gefunden?“
„Ja, ja. Sie war weiter entfernt, als ich dachte.“
Ich musste ihr ja nicht alles erzählen, nach Diskussionen war mir nämlich nicht der Sinn. Das Wasser erhitzte ich draußen auf unserem kleinen Campingkocher. Das dauerte ein wenig.
„Versuch schon mal zwei Teebeutel in der Vortasche meines Rucksacks zu finden und ein paar Zuckerstücke“, forderte ich meine Begleiterin auf.
Dann balancierte ich den Topf mit dem kochenden Wasser durch die enge Öffnung und kroch vorsichtig hinein. Schön warm war es da. Wir füllten unsere Becher. Dann saßen wir nebeneinander im Zelt, wärmten uns die Hände, schlürften den süßen Tee und sahen durch den Zelteingang dicke Schneeflocken in den See schweben. Richtig schön sah das aus.
„Wenn ich mir überlege, es könnte stimmen, was der Mann unten in der Kneipe erzählt hat.“
„Ach, Lisa, lass es doch. Kannst du nicht einfach mal Ruhe geben? Auf Eiertänze hab ich nun heute wirklich keinen Bock mehr. Wir sind jetzt hier, haben einen wunderbaren Blick auf den See, dazu noch den Segen von Frau Holle. Und morgen ist ein neuer Tag. Ein bisschen essen wollen wir auch, und zwar ohne die Horrorvisionen dieser Dorfschelme. In meinem Vorrat hab ich noch feine Sachen. Hast du Hunger?“
„Klitzekleinen.“
Ich zog den Rucksack heran und kramte nach Essbarem.
„Hey, schau mal, was ich hier habe.“
„Ölsardinen, wie köstlich“, meinte sie. „Sonst mag ich sie gar nicht, aber hier ist sowieso alles anders.“
„Ohne Haut und ohne Gräten. Und was meinst du, was es dazu gibt?“
Ich kramte weiter und zog eine Packung Knäckebrot heraus.
„Voilà, wenn das keine Delikatessen sind!“
Dann holte ich mein Messer aus der Hosentasche, öffnete die Dose und gab sie ihr. Sie angelte sich mit der Gabel ihres nagelneuen Campingbestecks ein Fischchen, legte es auf eine Knäckebrotscheibe und weg war es.
„Jetzt du.“ Dose, Knäckebrot und Gabel reichte sie weiter.
„Klar, immer abwechselnd, bis alles ratzeputz weg ist. Und zum Dessert gibt’s für jeden einen Schokoriegel. Wenn das kein köstliches Mahl ist!“
„Martin“, schrie sie plötzlich auf, „hast du es gesehen?“
„Was denn?“
„Ein weißer Schatten“, kreischte sie, „schneeweiß, ganz dicht an unserem Zelt. Und das Flattern. So laut. Ganz nah.“
„Eine Fledermaus. In der Dunkelheit jagen sie.“
„Weiße Fledermäuse jagen nur tagsüber.“
Woher wollte sie das denn wissen? Klar jagten die auch nachts, wie alle Fledermäuse. Ungewöhnlich war eher, dass diese hier oberhalb der Baumgrenze umherschwirrte, wo doch ihre Heimat in den Regenwäldern von Honduras war. Möglich jedoch, dass es auch eine Art gab, die sich in Eis und Schnee wohl fühlte.
„Nicht alle“, sagte ich und damit gab sie sich zufrieden.
„Bei den Mühlreuters ist nichts mehr so, wie es war“, begann sie nach einer Weile.
„Diese Mühlreuters kenne ich nicht, du auch nicht und ich will sie auch nicht kennenlernen. Gibt’s denn nichts Besseres zu reden? Es schneit, wir sitzen im Trockenen und haben einen schönen Blick auf einen unvergleichlichen Gebirgssee.“
„Das Leben der Familie ist zerstört, seitdem Vanessa verschwunden ist.“
„Wer weiß, warum sie abgehauen ist. Für ein junges Mädchen, das dazu noch hübsch ist, gibt es reichlich Gründe, so ein Bergnest am Ende des Tales zu verlassen.“
„Hast du nicht gehört, was sie an der Theke noch erzählt haben?“
„Was interessiert mich das dumme Geschwätz dieser Almöhis?“
„Einer hatte in jener Nacht über Mühlreuters Haus ein weißes Flugwesen gesehen.“
„Papperlapapp.“
„Da war es wieder“, kreischte sie, sprang auf, kniete vor ihrem Rucksack und begann, ihre Sachen einzupacken.
„Was hast du vor?“
„Ich halte das hier nicht aus.“
„Beruhige dich, es ist alles in Ordnung.“
„Hier kann ich auf keinen Fall bleiben.“
„Und wo sollen wir hin? Den Abstieg können wir jetzt nicht machen. Lebensgefährlich ist das mitten in der Nacht.“
„Egal wie, ich gehe hinunter.“
„Und was war heute Nachmittag? Alles vergessen? Geröllfeld? Felswände? Abgrund?“
Sie schob ihren Rucksack in die Ecke und kroch wieder neben mich.
„Guck wenigstens draußen nach, was das war.“
Große Lust hatte ich nicht, aber so gab sie ja auch keine Ruhe.

Es schneite nicht mehr. Die Wolken waren weggezogen und der Mond beleuchtete von seinem Platz über dem Felsmassiv die Alm, schönes bläuliches Licht auf dem Schnee. Ziemlich groß war er und kreisrund. Ich schlich um unser Zelt herum, konnte aber zunächst nichts entdecken. Fußspuren waren da. Ich erkannte das Profil meiner Wanderschuhe. Als ich zu den zwei Felsen hinauf schaute, kam mir doch nun auch unwillkürlich die Story von den schaurigen Gestalten in Eisgrotten in den Sinn. Kein Wunder, dass die Leute in den Bergen solche Geschichten erfanden und am Ende sogar glaubten, sie wären Realität. Hatten sie doch tagtäglich dieses bizarre Felsmassiv vor Augen. Und das sah nicht immer gleich aus, sondern änderte seine Gestalt stündlich, je nach Sonnenstand, Regen, Schneefall, Nebel und vor allem bei Vollmond. Da konnte schon mal die Fantasie mit einem durchgehen und das schönste Gebirgslatein in den Kopf kommen.
Nun packte mich die Neugier. Ich wollte mir die Höhle da oben genauer ansehen. Wann hatte ich schon mal die Gelegenheit, weiße Fledermäuse zu betrachten? Über die Felsbrocken kletterte ich hinauf. Am Eingang angekommen, sah ich schon ein wunderbares Exemplar an der Decke hängen. Schneeweiß und viel größer als ich es mir vorgestellt hatte. Das musste ich mir aus der Nähe ansehen. Ich ging hinein und betrachtete das Tier. Wo waren denn die Ohren? Vom Foto wusste ich, dass sie kopfunter baumelten wie die schwarzen. Vorsichtig berührte ich es mit dem Finger. In dem Moment wurde ich von einem eisigen Sog erfasst und beinahe von den Beinen gerissen. Erschrocken fuhr ich herum. Eine schneeweiße Mähne schleuderte mir ins Gesicht und stechend blaue Augen bohrten sich in meinen Hals. Mit eisigen Klauen packte mich das Ungeheuer. Ich stemmte beide Arme gegen seinen Körper, griff jedoch ins Leere und taumelte gegen die Wand. Verzweifelt zog ich mein Messer aus der Hosentasche, klappte es blitzschnell auf und als ich es erhob, wich mein Gegner zurück. Jetzt würde ich ihn erledigen. Aber o Schreck! Die Waffe glitt mir aus der Hand. Ich wollte sie aufheben, rutschte aus und stürzte zu Boden.
Ein lang anhaltender Schrei brachte mir das Bewusstsein zurück. Woher kam der? Lisa! Was war ihr passiert? Ich stützte mich am Felsen ab, um auf die Beine zu kommen. Wo war das weiße Ungeheuer? Nur stille Winterlandschaft, wohin ich blickte. Friedlich lag das Zelt am See im blausilbernen Licht. Dann war ja wohl doch alles in Ordnung. Wie lange war ich denn weg gewesen? Lisa würde schon warten. Ich ging los. Da kam sie mir schon entgegen. Erst nur schwach zu erkennen, dann immer deutlicher. In weißem Gewand schwebte sie auf mich zu. Wunderschön sah sie aus mit ihren wehenden Haaren, ihr Mund so rot. Sie kam näher, die Arme mir zugewandt. Ich fasste ihre Hände. So kalt. Ihr blutroter Mund lächelte mich an. Sie zog mich an sich. Ihre Zähne glitzerten silbern. Immer näher kamen die. Mein Messer! Wo war es? Ich riss mich los, lief zurück, sah schon die Klinge im Mondenschein blitzen, schnappte es, schnellte herum und hielt es der Frau entgegen. Da war sie verschwunden.

„Du warst lange weg, Martin. Ich war schon eingeschlafen“, sagte Lisa, als ich in das Zelt kroch. „Wie kalt du bist. Komm zu mir in den Schlafsack.“
Das war eine gute Idee.
„Hast du draußen etwas gefunden?“
„Gefunden, entdeckt, herausgefunden, wie du willst“, sagte ich. „Doch morgen ist auch noch ein Tag. Jetzt bin ich hundemüde und muss erst mal eine Runde schlafen.“
Das würde mir in der kuscheligen Enge auch sofort gelingen. Wenn die Sonne aufging und das weiße Ungetüm wieder in seiner Höhle baumelte, würde ich die Quelle finden, Teewasser holen und Lisa beim Frühstück mit leckerem Cornedbeef und Knäckebrot von den schaurigen Bestien erzählen, die vor vielen Jahren in Ungarn vertrieben worden waren. Hier oben hatten sie sich eingenistet und waren Jahrhunderte lang eingefroren. Durch die Erderwärmung tauten sie nun auf und trieben ihr Unwesen. Eines von denen hatte Mühlreuters Tochter das Leben ausgesaugt. Seitdem irrte Vanessa in Vollmondnächten im Gebirge umher.

Mehr davon in: Nie ohne Geister



Samstag, 10. Mai 2014

Wenn wir von Liebe reden


Auf dem Weg zu dir singe ich im Kopf das Kinderlied. Dabei sehe ich dich. Die Fröhlichkeit in deinem Gesicht. Dein Lachen. So viel Hunger nach Leben. Wie glücklich du aussiehst. So jung. Jung und hübsch. Die Zuversicht in deinen Augen, wenn du singst. Für mich. Ja, ich weiß, ich weiß es. Hab’s schon längst gesehen. Beeilen muss ich mich. Mach ich ja, bin schon an der Ecke.
Du siehst mich. Freust dich.
Ach du.
Heiß ist es heute. Erbarmungslos brennt die Sonne auf meine Rose. Ich bin ja gleich bei dir und bei meiner Rose, werde durch das Tor gehen und sofort nach links schauen, zu dir. Das mache ich immer. Heute werde ich erst zum Brunnen gehen, dann zu dir.
Verstehst du doch.
Ja klar. Bei dieser Hitze werde ich viele Male zum Brunnen gehen, immer hin und her mit der Gießkanne. Schau, ich hab uns eine gelbe gekauft, damit ich sie nicht verwechsle zwischen den grünen am Brunnen. Außerdem finde ich diese gelbe viel schöner. Du auch, das weiß ich. Sie gefällt dir. Und sie passt besser zu meiner Rose. Schon allein, weil sie so außergewöhnlich ist. Außergewöhnlich wie du. Einzigartig wie du und wie sie, meine Rose. Dass ich so oft zwischen dir und dem Brunnen hin und her laufen muss, macht mir gar nichts aus. Meine Rose soll nicht dürsten. Sie soll ihre strahlende Farbe behalten und die herrlich glänzenden Blätter. Vor allem ihr Lachen und ihre Fröhlichkeit. Wir wollen doch noch viel Freude an ihr haben.
Du siehst mich schon am Tor.
Ich gehe hindurch, geradeaus zum Brunnen. Du hättest die rosa Farbe gewählt, ich weiß. Rosa fand ich auch immer schön, früher. Doch jetzt gefällt mir das Rot besser.
Warum rot, fragst du, warum so rot, warum so dunkelrot?
Ich warte, bis der Schmerz ein wenig nachlässt. Das dauert. Ich kenne das schon. Es dauert immer so lange, bis die Stille kommt, die jede Bewegung erstarren lässt und jeden Laut erstickt. Knallrote Stille. Die mir die Tränen in die Augen treibt. Die mir fast den Atem nimmt. Eine Weile, bis ich einen kleinen Schritt mache, stehen bleibe, lange stehen bleibe, bis ich dann langsam weitergehe. Erst zum Brunnen und dann zu dir und zu meiner Rose. So rot.
Du weißt, was das bedeutet, das Rot. Diese fünf Buchstaben. Demnächst bringe ich auch das weiße Herz mit den fünf Buchstaben wieder mit.
Warum ich es weggenommen hatte, obwohl es dein Herz ist, weil ich es dir doch geschenkt habe, fragst du.
Das hab ich dir doch erklärt. Hier draußen ist es zu kalt im Winter. Ich will nicht, dass es in frostigen Nächten zerbricht. Dann hättest du auch nichts mehr davon. Deshalb habe ich es an einem warmen Platz gut geschützt aufbewahrt. Ich werde es wieder mitbringen und an den Sockel lehnen, neben meine Rose, nein, ein bisschen dahinter, weil die Rose, anders als das Herz, zum Sockel etwas Abstand braucht. Ja, ich arrangiere es schön aufrecht am Sockel, den goldenen Schriftzug ein wenig zum Himmel gerichtet, damit du immer sehen kannst, was da geschrieben steht. Fünf Buchstaben in Gold auf Weiß. Damit du immer erinnert wirst.
Weiß ich doch, sagst du. Wozu brauchst du die fünf Buchstaben auf Stein? Dich muss nichts erinnern, weil du es weißt. Weil sie immer da ist? Immer und überall ist sie da.
Schon richtig. Ich weiß das ja auch. Sie ist immer da, wie eine Brücke zwischen deiner Welt und meiner Welt. Und wenn ich es mir recht überlege, brauche ich das steinerne Herz mit den fünf Buchstaben auch nicht mehr. Ich habe doch dein Lied. Und dein Lachen. Und meine Rose.

►  Wenn wir von Liebe reden

"Da ist ein Land der Lebenden 
und da ist ein Land der Toten.
Die Brücke zwischen ihnen 
ist die Liebe ..."

(Thornton Wilder: Die Brücke von San Luis Rey)

Montag, 14. April 2014

Ruhe gibt es nicht


Wieder so ein Horrorszenario im Fernsehen. Sie mag gar nicht mehr hinschauen, doch unerbittlich dringen die Bilder mit den Nachrichten in ihr Wohnzimmer. Dort, wo Straßen waren, liegen leblose Körper im Schutt. Einer wird in einem verschmutzen Tuch zum Ambulanzwagen gebracht. Helfer im Laufschritt. Zwischen den Trümmern ein weinendes Kind. Viele sind noch verschüttet. Das hat sie doch alles selbst erlebt. Wann gibt es endlich Ruhe? Immer wieder diese Panik. Sirenengeheul, zum Bunker hetzen, das Brummen der Bombenflieger, ja noch hineinkommen, bevor die Eisentür verschlossen ist. Donnern, wieder Donnern, noch einmal und noch einmal. Der Bunker bebt, schwankt entsetzlich. Alle schreien. Wo ist Jupp? Totenstille in der Stadt. Jupp unter den Trümmern. Nein, nein, das will sie nicht. Das braucht sie nicht. Zitternd greift sie neben sich nach der Fernbedienung. Auf dem anderen Kanal sieht es nicht besser aus. Sie haben nur noch das, was sie am Körper tragen. Eine Frau kauert auf einem Trümmerfeld, wo vorher ein Haus stand. Uralte Frau. Nie mehr findet sie einen Weg, hat nicht einmal mehr Kraft für Tränen. Was heißt Interessen der Konfliktparteien, Herr Professor? Die finden doch immer Gründe. Woher haben sie die Waffen? Nein, nein, nein, das hört nie auf. 
Sie schaltet den Fernseher aus, sitzt schweigend im Sofa und starrt auf den dunklen Bildschirm. Wieder so ein schrecklicher Tag. Das geht nie vorbei. Sie will nur noch Ruhe.
Das Telefon.
Nicht jetzt.
Jetzt nicht, Verena. Ich kann nicht telefonieren, das musst du einsehen. Heute nicht. Ich weiß, du wolltest nach dem Abendessen anrufen, das hattest du versprochen, es war auch so vereinbart. Vorher hast du es nicht geschafft, musstest lange arbeiten heute. Aber ich kann nicht. Ja, ja, extra große Buchstaben und Zahlen auf den Tasten, ich weiß. Alles wunderbar zu erkennen. So einfach jetzt. Das hast du richtig fein gemacht, sag ich doch. Eine wahre Perle bist du, kümmerst dich um alles. Du meinst es so gut, keine Frage. Aber es geht wirklich nicht.
Nicht jetzt.
Nicht heute.
Ob alles in Ordnung ist? Sicher, es geht mir gut. Sehr gut sogar. Glaube mir. Wunderbar geht’s mir. Gegessen? Was für eine Frage. Klar hab ich gegessen. Ein paar Zwiebäcke. Zum Kochen hatte ich gar keine Zeit heute. Morgen wieder. Ganz gewiss mach ich das morgen. Keine Panik. Ich weiß doch selbst, dass ich essen muss. Wenn ich leben will, muss ich essen. Getrunken hab ich auch, obwohl ich eigentlich gar keinen Durst habe. Den Rest von dem roten Saft, den du mitgebracht hast, ich weiß nicht mehr wann. Nein, du musst nicht vorbeikommen. Heute nicht. Auf keinen Fall heute. Mach dir keine Sorgen. Es ist alles hier, was ich brauche. Die Medikamente kannst du mir beim nächsten Mal mitbringen, für heute reichen sie auf jeden Fall, beste Verena. Wenn ich dich nicht hätte! Wäsche? Ja, ja, Nachthemd und Schlüpfer hab ich gewaschen, wie du gesagt hast, die Sachen liegen noch in der Badewanne. Ja, das Bücken. Nein, ich schaffe das schon allein. Morgen komme ich dazu, auswringen und auf den Wäscheständer hängen. Ich muss mich ja nicht beeilen. Zeit habe ich doch genug, den ganzen langen Tag. So viel Zeit. Ich passe schon auf, dass ich nicht wieder stürze. Seniorennotruf, höre ich dich wieder sagen. So ein technisches Ding um den Hals? Ich glaub’s dir wohl. Du kannst es aber auch nicht lassen. Immer wieder fängst du davon an. So weit bin noch nicht, noch lange nicht. Ich schaffe das noch gut alleine. Sogar sehr gut, das siehst du doch selbst.
Lege den Hörer auf, Verena, heute wird das nichts mit uns am Telefon.
Soziale Kontakte? Ha, dein Lieblingsthema! Soziale Kontakte! Die Formulierung liebst du wohl über alles. Denk doch mal nach! Ist denn noch einer da von der Kegelrunde und vom Canasta? Keiner mehr. Auch in der Straße. Keiner mehr da. Das weißt du ganz genau und fragst trotzdem immer wieder. Immer wieder dieses Thema. Wo sind sie denn, die sozialen Kontakte? Alle weg. Das hast du wohl ganz vergessen. Oder du willst es nicht wahrhaben. In anderen Dingen bist du doch so helle, aber an dem Punkt bist du begriffsstutzig. Schon mal die Totenglocke gehört? Heute wieder, ich wohne ja nahe genug am Friedhof. Sensenmann hat sie alle mitgenommen. Wer weiß, wohin. Wie oft muss ich dir noch erklären, was das bedeutet? Es bedeutet, ich habe nur noch dich, Verena. Nur dich und sonst niemanden. Wir telefonieren doch jeden Tag und du kommst vorbei, wenn ich das möchte. Das reicht mir völlig. Ich habe keine Langeweile. Der Fernseher ist da doch noch. Na gut, heute gibt’s kein gescheites Programm. Das kommt schon mal vor. Am Samstag gab’s meine zwei Freunde, so schnuckelig in ihren weißen Anzügen, hab ich dir doch erzählt. Das ist Musik für’s Herz. Ja, die CD war ein schönes Geschenk, aber noch besser ist es, wenn ich diese Amigos auch sehe. Meine Freunde. Wie sie mich anlächeln, als würden sie extra für mich singen, vor allem Karl-Heinz mit der Gitarre. Demnächst bin ich wieder dabei und klatsche mit. Heute nicht. Gib’s auf, Verena. Nein, nein und nochmals nein!  Leg den Hörer auf. Zum Telefon kann ich jetzt nicht gehen. Wirklich nicht. Heute brauche ich mal Ruhe. Das musst du einsehen. Nichts als Ruhe. Endlich Ruhe. Das verstehst du doch. Ich weiß, dass du das verstehst.
Das Telefon ist still. Tante Käthe ist auf dem Klo, wird Verena denken. Später wird sie es noch einmal versuchen. Das kann eine Weile dauern, Verena ist hartnäckig. Doch Käthe wird auch später nicht telefonieren. Heute will sie nur noch ins Bett.
Sie versucht auf die Beine zu kommen, sackt aber immer wieder zurück in ihre Sofasitzkuhle, müsste dringend höher sitzen, damit sie von ihrem Fernsehplatz besser aufstehen kann. Ein Kissen auf dem Sofa wäre gut, so eins von diesen Keilkissen. Verena hat das schon vor Wochen vorgeschlagen, gestern erst wieder am Telefon. Sie hat sogar schon eins besorgt und wollte es eigentlich heute vorbeibringen, zusammen mit dem Toilettensitz, damit auch da das Hochkommen einfacher wird. Doch heute geht das auf gar keinen Fall. In ein paar Tagen vielleicht. Irgendwann einmal. Nicht heute. So wichtig ist das nicht.
Immer dieses Zittern.
Gestützt auf den Stock schleppt sie sich in die Küche. Die Beine machen nicht mehr mit, sie gehorchen einfach nicht. Ihre Nervchen, hat der Doktor gesagt. Was ist nur mit ihren Nervchen? Beruhigung braucht sie, ihre Pillen, damit endlich dieses Zittern aufhört.
Am Spülbecken füllt sie das Wasserglas. Dann einige Schritte zum Schrank. Die kleinen weißen Dinger. Wenn sie die nicht hätte. Ein paar Tage reichen sie noch. Dann bringt Verena neue aus der Apotheke. Liebste Verena. Was würde sie nur tun ohne ihre Nichte? Schrecklich wäre das. Überhaupt kein Leben. Für dieses Goldstück kann sie ihrer Schwester noch immer dankbar sein. Kein Wunder, dass sie immer so stolz war auf dieses Kind, allen Grund hatte sie dazu. Ein wunderbares Kind. Auch ihr Kind. Das Kind von Grete und Käthe. Zwei Frauen, ein Kind und keine Männer. Jupp unter Trümmern, Rudi nie mehr wieder gekommen. Irgendwo verscharrt, in Merefa. Heldentod im Süden der Ostfront. Ein Pfundskerl war Rudi. Verena ist ihm so ähnlich. Der verflixte Plastikrand. Warum steckt der Deckel immer so fest? Die Dinger rappeln im Glas und sie kommt nicht ran. Gottlob noch so viele darin.
Dieses verdammte Zittern.
Nicht nervös werden. Mit den Fingernägeln geht’s vielleicht. Warum hat sie den Verschluss nur so fest hineingedrückt gestern? Sie braucht doch diese verdammten Dinger, muss es schaffen. Unbedingt. Dabei auch noch den lästigen Stock festhalten, damit er nicht umkippt, auf die Fliesen fällt und sie dann stolpert, wenn sie ihn aufheben will, alles versucht, das aber trotzdem nicht schafft, vielleicht sogar das Übergewicht kriegt und dann wieder auf dem Küchenboden liegt, hilflos wie ein Käfer auf dem Rücken, so lange, bis ihr nach vielen Stunden jemand helfen kann. Vielleicht.
Nein, das darf nicht passieren. Wie sie dieses lange Ding hasst! Sie lehnt vorsichtig den Knauf gegen eine Schrankschublade, an eine Stelle, wo sie ein wenig offen steht, das gibt Halt, will das sperrige Teil mit den Beinen fixieren. Kaum möglich mit ihren Zitterknien. Was für ein Elend mit den Beinen.
Wie soll das nur noch weiter gehen?
Demnächst sollte sie doch den Gehwagen benutzen. Sie wollte ihn eigentlich gar nicht in der Wohnung haben. Verena hat ihn trotzdem mitgebracht. Geschimpft hat sie mit ihrer Nichte, doch die war hartnäckig, hat ihn nicht wieder mitgenommen, sondern in die dunkle Ecke im Flur gestellt. So hartnäckig. Jetzt wäre er eine richtige Hilfe. Sie müsste ihn nicht die ganze Zeit festhalten wie den kippeligen Miststock oder mühsam irgendwo anlehnen, würde einfach die Bremse feststellen, damit er nicht wegrollt, könnte sogar im Korb etwas ablegen und sich jetzt kurz auf den schwarzen Steg setzen und alles in Ruhe machen. Und sie könnte endlich mal wieder eine Runde mit Verena spazieren gehen ohne Angst hinzufallen. Sorry, Verena, du hast recht gehabt. Vielleicht sollte ich über deine Idee mit dem Seniorennotruf auch mal nachdenken. Verzeih mir, du liebes hartnäckiges Kind. Es dauert manchmal sehr lange, bis ich etwas einsehe. Halsstarrig war ich schon immer, das hat deine Mutter auch immer geärgert. Es ist noch schlimmer geworden mit mir. Da bist du doch richtig geduldig. Dabei bist du auch nicht mehr die Jüngste. Ich sollte doch langsam vernünftiger werden. Sie ruckelt und zerrt am Verschlussdeckel, so kräftig, dass sie Angst hat, der wertvolle Schatz würde auf den Boden fallen. Ja nicht! Die Katastrophe wäre das. Der Deckel gibt nach. Endlich! Alles gut gegangen. Nur die Ruhe. Sie schüttet sich ein paar von den weißen Pillen in die zittrige Hand. Heute nimmt sie mal wieder zwei oder drei, oder auch mehr. Wunderbar!


Kurzgeschichte aus: Wenn wir von Liebe reden

Foto: Renate Hupfeld am 13. April 2014 Bombentrichter in den Lippewiesen westlich der Bahnlinie im Hammer Norden

22. April 1944 und die Bombentrichter in Hamm


Samstag, 18. Januar 2014

Eispalast


Da stand sie nun zwischen Felsriesen und Gletscherspalten und einer Sicht gleich Null. Nicht einmal den Liftmann konnte sie erkennen, der ihr sonst immer beim Ausstieg geholfen und den kleinen Wildfang einen Moment lang am Arm gehalten hatte. Jetzt hielt sie das Kind an der Hand, es schaute zu ihr hoch, nichts mehr von Schalk in seinen blauen Augen, die sie sonst immer unternehmungslustig anblitzten. Da war nur Angst in seinem Blick. Warum hatte sie ihm nur wieder nachgegeben und war noch einmal hoch gefahren in dieser Panoramabahn, die im Moment alles andere als Panoramen bot? Hätte sie sich nicht denken können, dass sich um die späte Nachmittagszeit in diesen Höhen schnell etwas zusammenbraute? Da war aber wirklich nichts mehr zu sehen. So ein Mist, ein richtiger Nebelmist. Sollte der Vater denn wieder recht behalten? War sie zu nachgiebig? Deine Erziehung, hörte sie ihn sagen. Du kannst dich nicht durchsetzen, der Junge tanzt dir auf dem Kopf herum bei ihm wäre er besser aufgehoben.
Ja, ja, ja.
Ja, das hatte sie sich selbst eingebrockt und musste nun zusehen, wie sie das Söhnchen heil die Piste hinunter bekam. Ruhe bewahren, sagte sie sich, obwohl ihre Knie zitterten.
„Mama, wo sind wir?“
„Auf der Piste, Nikki.“
„Wo ist die Piste, Mama?“
„Gute Frage. Wir stehen darauf aber wir sehen sie nicht, weil sie in einer Wolke verschwunden ist.“
„Wolken sehen aber anders aus.“
„Nikki, wir sind jetzt mitten drin in der Wolke und das nennt man Nebel.“
„Nebel kenn ich doch. Okay, und jetzt?“
„Skier an die Füße, Stöcke in die Hand und runter fahren.“
„Ich seh nix.“
„Ich auch nicht. Bleib einfach ganz dicht hinter mir.“
„Mach ich.“
Langsam fuhr sie los, Pflugbogen um Pflugbogen und hörte, wie Nikki hinter ihr mit seinen kleinen Skiern Kurve für Kurve den Schnee weg schob. Das lief ja gut. Keine Diskussion mehr. Wenn es drauf ankam, konnte sie sich auf ihren kleinen Wildfang verlassen.  
„Guck mal, Mama, da hinten ist ein Haus mit ganz viel Schnee drauf“, rief er plötzlich.
„Ein Felsen ist das, da müssen wir höllisch aufpassen, damit wir nicht zu nahe herankommen“, rief sie zurück und in dem Moment, als sie sich umdrehte, zog es ihr die Beine weg. Wie in Watte rutschte sie in den weichen Schnee, rutschte und rutschte in diesem endlosen Weiß, glaubte zu schweben, bis ein Schleier ihr Gesicht streifte. Sie öffnete die Augen. Undurchdringliche Dunkelheit umgab sie, schnürte sie ein. Sie riss die Augen weit auf. Was war geschehen? Jedenfalls stand sie auf ihren Beinen. Sie wollte schreien. Doch es war so still. Wo war sie? Wo war Zurück? Bewegen? Wohin? Auf zittrigen Beinen stand sie, geduckt, als könnte sie an etwas Hartes stoßen, horchte. Nichts. Vorsichtig richtete sie den Oberkörper auf.  Beim Kopfdrehen spürte sie einen leichten Luftzug. Schwankte sie? Ha! Was berührte sie da? Sie wollte sich wehren. Doch wie? Gegen wen? Ein Hauch. Etwas Leichtes auf ihrer linken Schulter. Sie tastete danach. Ein Wesen. Ein Mensch. Eine Hand fühlte sie. Nie war eine Hand so warm. Einen Moment lang spürte sie Erleichterung und hielt die Hand fest umklammert.
„Ich sehe nichts. Wer bist du?“
„Ich bin Lilian.“
„Hier ist es so dunkel, ich will zurück.“
„Es gibt kein Zurück, Phillis. An die Dunkelheit wirst du dich gewöhnen. Ich zeige dir den Weg hinein in diesen wunderbaren Palast.“
Mühsam setzte Phillis den Fuß vor und bewegte sich Schritt für Schritt tastend in der Finsternis, Lilians Hand immer noch fest umklammert.
„Wo bin ich?“
„Beim großen Gangano.“
„Gangano?“
„Der berühmte Prinz der Lüfte, Herr über den Eispalast.“
„Und mein Kind?“
„Nikolas ist bei Ganganos Söhnen. Er ist jetzt ein Luftprinz wie sie.“
„Wie sind wir hierher gekommen?“
„Dein Kind hat das Zeichen in den Augen. Alle Jungen mit dem blauen Zeichen kommen in den Palast des großen Gangano.“
Am Horizont war ein bläulicher Schimmer zu sehen. Hatten sie die Dunkelheit überwunden? Phillis schaute nach links und sah in Lilians junges Gesicht. Nie war ein Lächeln so tröstlich. Langsam näherten sie sich dem blauen Licht. 
„Da sind Ganganos Söhne.“
Phillis schaute in einen Raum, von unten her blau beleuchtet. Es mochten wohl mehr als zehn kleine Jungen sein, die da bewegungslos saßen. Leuchtend blaue Augen in fahlweißen Gesichtern. Dunstschwaden verbreiteten einen süßlichen Geruch.
„Nikki“, rief Phillis, als sie ihr Kind erblickte.
„Mama, ich fliege.“
Dann verschwamm sein Gesicht hinter ihren Tränen und sie wurde weiter gezogen.
„Lass ihn, er gehört jetzt zu ihnen.“
Lilian brachte sie in einen weiteren Raum, auch dieser schwachblau von unten beleuchtet.
„Dies ist das Reich der Frauen. Hier wirst du wohnen, wie alle Mütter der Jungen. Sie feiern und bewundern den großen Meister, ihre einzige Aufgabe.“
Ein blaues Gewand schwebte herunter, direkt auf Phillis zu.
„Nimm es. Das bedeutet, der Meister hat dich gerufen und will dich sehen. Bereite dich auf die große Inszenierung vor. Zieh das Kleid über, dann gehen wir los. Komm, ich helfe dir.“
Lilian streifte ihr das Kleid über und nahm sie an die Hand.
„Halt, eine Frage noch, Lilian.“
Sie blieben stehen.
„Wie komme ich zurück in meine Welt?“
„Es gibt keine andere Welt. Niemand kann den Ring der Finsternis überwinden. Alle, die es bisher versucht haben, sind im Kreis gelaufen. Wenn sie Glück hatten, wurden sie von den weißen Elfen eingefangen und zurück gebracht. Die meisten wurden jedoch nie mehr gesehen.“
Kein Zurück? Das konnte sie nicht glauben. Sie war hierher gekommen und sie würde auch wieder hinaus kommen. Ehe sie den Gedanken zu Ende dachte, befanden sie sich im riesigen Rund einer Halle, angeordnet wie eine Arena, nur umgekehrt. In der Mitte führten unzählige Treppenstufen hinauf in schwindelnde Höhen. Über einer Bühne wölbte sich eine weiße Kuppel mit unendlichen Ausmaßen. Auf der obersten Treppenstufe lagerte eine Gruppe kleiner Jungen. Die Kinder kauerten zusammen und schienen zu schlafen. Phillis meinte Nikolas unter ihnen zu entdecken. Sie wollte zu ihm gehen, doch Lilian hielt sie zurück.
„Lass ihn, Phillis, er gehört jetzt ihm und du gehörst hierher, in die Schar seiner Bewunderinnen.“
Nein, nein, nein, dachte Phillis. Sie schaute nach links und nach rechts. Frauen in blauen Gewändern hatten sich vor den Stufen versammelt und blickten unentwegt nach oben, wo Elfen mit weißen Masken hoch in den Lüften schwebten.
Als eine dröhnende Stimme ertönte, bebte der Eispalast.
„Jetzt kommt der große Gangano.“
Eine Weile war es ganz still. Dann schwebte ein riesiger Mann mit weißem Umhang herein und schritt auf die Bühne. Phillis spürte einen eisigen Hauch, als er hinunter schaute und sein Blick zuerst über die Gruppe der Jungen, dann über die Schar seiner Bewunderinnen hinweg wanderte.
„Der große Gangano, Herr über die Lüfte“, dröhnte es wieder.
Weiße Tänzer wirbelten um das Eismonster herum und verneigten sich immer wieder. Klirrende Töne sprangen durch die Luft wie kleine Blitze. Gangano bewegte sich zuckend und begann einen Tanz, so wild, dass der gesamte Eispalast vibrierte.
„Der große Gangano, gefeiert und bewundert“, hallte es unter der Kuppel. „Gefeiert und bewundert.“
Die Frauen fielen auf die Knie, auch Lilian. Gefeiert und bewundert? Nicht von allen. Phillis blieb stehen und schaute in das Gesicht des eisigen Riesen, fixierte seine blauen Augen. Seine Verachtung traf sie wie tausend kleine Eiszapfen. Sie wollte zurückweichen, nahm aber allen Mut zusammen und blickte das Eismonster unentwegt an, obwohl sein eiskalter Blick schrecklich schmerzte. Es gelang ihr sogar, ein Zucken der Augenlider zu unterdrücken. Gangano erstarrte. Klirrend zerschellte sein weißer Umgang, ein Haufen Eisscherben lag zu seinen Füßen. Wie klein er plötzlich war, als er nackt da stand. Eine winzige Figur auf der großen Bühne unter der gewaltigen Kuppel. Dann war er ganz verschwunden. Die weißen Tänzer schwirrten noch eine Weile wild durcheinander und verschwanden einer nach dem anderen. Auch Lilian und die anderen Frauen waren nicht mehr zu sehen.
Phillis stand allein am Fuße der Treppe und wartete noch einen Moment in der atemlosen Stille. Als nichts mehr passierte, ging sie unzählig viele Stufen hoch, bis sie endlich oben bei den Jungen ankam. Nikolas lag mitten unter ihnen. Sie beugte sich zu ihm hinunter und küsste ihn auf die Stirn. In dem Moment schlug er die Augen auf und lächelte sie an.
„Mama.“
„Das Eismonster ist besiegt, Nikki. Wir müssen hinaus. Bleib schön dicht bei mir.“
Stufe für Stufe stiegen sie hinunter und verließen die Halle durch einen bogenförmigen Ausgang. Auch hier war niemand zu sehen. Es zog sie in einen Gang, bläulich beleuchtet. Außer dem leisen Scharren ihrer Füße war nichts zu hören. Plötzlich streifte ein schwarzer Schleier ihr Gesicht und im gleichen Moment umgab sie undurchdringliche Schwärze. Wo war oben und unten? Sie stand nicht mehr auf ihren Beinen, konnte sich nicht halten, rutschte endlos lange, bis sie liegen blieb.
„Nikki, wo bist du?“
„Hier bin ich, Mama“, hörte sie aus der Ferne. Dann ganz aus der Nähe: „Ist alles in Ordnung bei dir, Mama?“
„Ich glaub schon.“
„Steh auf, ich helfe dir.“
Er hielt ihr seine kleine Hand hin und zog mit aller Kraft, bis sie sich endlich aufgerappelt hatte.
„Ich hab nichts mehr gesehen“, sagte sie.
„Da hat’s dich geschmissen, direkt vor dem Felsen, schau dort. Ich bin hinter dir hergeflitzt und weiß, wo deine Skier sind, hab’s genau gesehen.“
Er klickte seine Schuhe aus der Bindung und stapfte durch den tiefen Schnee. Dann buddelte er ihre Bretter eins nach dem anderen aus und stellte sie nebeneinander, damit sie besser einsteigen konnte.
„Warte mal, heb mal die Beine an“, sagte er noch und klopfte mit seinen Skistöcken Schnee- und Eisklumpen unter ihren Skischuhen ab, erst beim einen, dann beim anderen, wie sie es sonst immer bei ihm tat. „Es ist nicht mehr so neblig. Schau, da drüben ist eine Spur. Da ist gerade ein Snowboarder lang gefahren. Die Spur nehmen wir, Mama. Zuerst fahre ich ein Stück vorweg, dann du, immer abwechselnd.“
„Es war ein Fehler, noch einmal mit dir die Panoramabahn hoch zu fahren, Nikki, das war sehr unvernünftig.“
„Mama, ich wollte es doch unbedingt. Und unten war das Wetter doch noch ganz schön. Konnten wir wissen, dass man oben nichts mehr sieht? Du hattest mir doch gesagt, ich soll immer ganz dicht hinter dir bleiben. Und das hab ich gemacht.“
„Ja, das hast du, obwohl du doch beim Hochfahren in der Gondel gar nicht abwarten konntest, bis du hinuntersausen konntest. Ich konnte mich voll auf dich verlassen. Aber der Nebel wurde doch zu stark.“
„Und da ist es auch dir mal passiert, Mama. Ist doch alles gut gegangen. Ich hab auf dich aufgepasst. Du passt doch auch immer auf mich auf und hilfst mir, wenn’s mich in den Schnee schmeißt.“
„Hast ja Recht, mein Söhnchen. Komm, lass dich drücken.“ Sie zog den kleinen Kerl an sich und gab ihm einen Kuss. „Wir müssen los, bevor es noch dunkel wird. Ich bin bereit zur Abfahrt. Steig ein, doch warte, deine Skischuhe.“ Jetzt klopfte sie ihm Schnee und Eis ab und er stieg in die Bindung. „So, nun zeig mir den Weg, du Großer.“
„Alles klar, Chef“, rief er noch, bevor er seine kleinen Skier in die Snowboardspur lenkte.


Foto © Renate Hupfeld