Mittwoch, 17. Oktober 2018

Lisa am See


Wir befanden uns auf einem wahnsinnig schmalen Pfad entlang einer Felswand, als Lisa sich plötzlich umdrehte, kreidebleich, nach meiner Hand griff und versuchte, sich an mir festzuhalten. „Hilf mir, Martin, ich kann nicht weiter.“
„Bleib ganz ruhig, bitte. Kopf hoch und geradeaus schauen.“
Saugefährlich war die Situation. Da stand ich nun mit Lisas zitternder Hand in meiner und hatte plötzlich selbst Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Links ging es fast senkrecht hinunter und rechts gab auch keinen Halt. Ich machte das, was ich ihr geraten hatte, schaute nach vorne.
„Pass auf, Lisa. Wenn ich jetzt deine Hand loslasse, gehst du ganz vorsichtig einen Schritt, okay?“
„Kann ich doch nicht.“
„Kannst du, mach nun.“
„Hilfe“, schluchzte sie und fing richtig an zu heulen.
„Jetzt reicht’s“, brüllte ich. „Sollen wir beide in den Abgrund stürzen? Geh! Sofort!“
Ich atmete auf, als sie meine Hand losließ und ein Schrittchen wagte.
Was war nur mit ihr los? Niemals hätte ich mit derartigen Schwierigkeiten gerechnet, als ich diese Tour mit ihr plante. Beim Skifahren war ihr kein Berg zu hoch und kein Hang zu steil. Was war denn im Sommer anders?
Gottlob war diese Felsumrundung irgendwann zu Ende und Lisa bekam ihre Panik in den Griff. Wir mussten noch einen Gebirgsbach überqueren, indem wir von Stein zu Stein sprangen, und ein ziemlich ausgedehntes Geröllfeld mit einigermaßen erträglichem Gefälle. Immerhin kamen wir mit heilen Knochen oben am See an, unserem Übernachtungsziel. Die Hochalm hatten wir ganz für uns alleine. Schweigend lagen wir im Gras zu Füßen des Felsmassivs, das wir in zwei Tagen umwandern wollten. Zunächst stand die Sonne noch über den beiden Gipfelzacken. Doch als sie plötzlich hinter dem Berg verschwand, lag unser schönes Plätzchen im Schatten. Es wurde sofort kühl und wir bauten unser kleines Zelt auf. Lisa hatte sich nach dem Aufstieg erstaunlich schnell erholt und half mir.
„Mach es dir schon mal drinnen bequem. Ich hole Wasser und dann gibt es Tee“, sagte ich, nahm meine Feldflasche und ging los. Nach Informationen im Wanderführer sprudelte aus den Felsen eine Quelle in den See. Es war ein Stückchen zu laufen, doch ich fand keine Wasserstelle, auch nicht, als ich über Gesteinsbrocken ein Stück nach oben kletterte. Ich horchte.  Da war auch kein Plätschern zu hören. Einige Meter über mir begann schon der Gletscher und ich entdeckte den Eingang zu einer Höhle. Ein weißes Gebilde hing von der Decke herunter, vielleicht ein Eiszapfen, doch konnte ich das aus der Entfernung nicht genau erkennen. Jedenfalls war das wohl eine der Eishöhlen, von denen der Mann in der Dorfkneipe erzählt hatte, in der wir den Abend vorher verbracht hatten. Eine wahre Horrorstory übrigens. Die Quelle fand ich jedenfalls nicht, hörte auch kein Plätschergeräusch. Seltsam war das schon, denn eigentlich müsste die in der Nähe sein.  Doch was sprach dagegen, wenn ich glasklares Wasser aus dem See schöpfte?
Mit gefüllter Feldflasche ging ich zurück zum Zelt, blieb davor stehen und schaute mich noch einmal um. Die Felsspitze war jetzt in Dunst eingehüllt, der Mond als milchiger Fleck zu erahnen. Es begann leicht zu schneien. Ja, in diesen Höhen war wettermäßig alles möglich. In kürzester Zeit legte sich ein weißer Schleier auf Zelt und Umgebung.
„Bist du es, Martin?“
„Ja.“
„Hast du die Quelle gefunden?“
„Ja, ja. Sie war weiter entfernt, als ich dachte.“
Ich musste ihr ja nicht alles erzählen, nach Diskussionen war mir nämlich nicht der Sinn. Das Wasser erhitzte ich draußen auf unserem kleinen Campingkocher. Das dauerte ein wenig.
„Versuch schon mal zwei Teebeutel in der Vortasche meines Rucksacks zu finden und ein paar Zuckerstücke“, forderte ich meine Begleiterin auf.
Dann balancierte ich den Topf mit dem kochenden Wasser durch die enge Öffnung und kroch vorsichtig hinein. Schön warm war es da. Wir füllten unsere Becher. Dann saßen wir nebeneinander im Zelt, wärmten uns die Hände, schlürften den süßen Tee und sahen durch den Zelteingang dicke Schneeflocken in den See schweben. Richtig schön sah das aus.
„Wenn ich mir überlege, es könnte stimmen, was der Mann unten in der Kneipe erzählt hat.“
„Ach, Lisa, lass es doch. Kannst du nicht einfach mal Ruhe geben? Auf Eiertänze hab ich nun heute wirklich keinen Bock mehr. Wir sind jetzt hier, haben einen wunderbaren Blick auf den See, dazu noch den Segen von Frau Holle. Und morgen ist ein neuer Tag. Ein bisschen essen wollen wir auch, und zwar ohne die Horrorvisionen dieser Dorfschelme. In meinem Vorrat hab ich noch feine Sachen. Hast du Hunger?“
„Klitzekleinen.“
Ich zog den Rucksack heran und kramte nach Essbarem.
„Hey, schau mal, was ich hier habe.“
„Ölsardinen, wie köstlich“, meinte sie. „Sonst mag ich sie gar nicht, aber hier ist sowieso alles anders.“
„Ohne Haut und ohne Gräten. Und was meinst du, was es dazu gibt?“
Ich kramte weiter und zog eine Packung Knäckebrot heraus.
„Voilà, wenn das keine Delikatessen sind!“
Dann holte ich mein Messer aus der Hosentasche, öffnete die Dose und gab sie ihr. Sie angelte sich mit der Gabel ihres nagelneuen Campingbestecks ein Fischchen, legte es auf eine Knäckebrotscheibe und weg war es.
„Jetzt du.“ Dose, Knäckebrot und Gabel reichte sie weiter.
„Klar, immer abwechselnd, bis alles ratzeputz weg ist. Und zum Dessert gibt’s für jeden einen Schokoriegel. Wenn das kein köstliches Mahl ist!“
„Martin“, schrie sie plötzlich auf, „hast du es gesehen?“
„Was denn?“
„Ein weißer Schatten“, kreischte sie, „schneeweiß, ganz dicht an unserem Zelt. Und das Flattern. So laut. Ganz nah.“
„Eine Fledermaus. In der Dunkelheit jagen sie.“
„Weiße Fledermäuse jagen nur tagsüber.“
Woher wollte sie das denn wissen? Klar jagten die auch nachts, wie alle Fledermäuse. Ungewöhnlich war eher, dass diese hier oberhalb der Baumgrenze umherschwirrte, wo doch ihre Heimat in den Regenwäldern von Honduras war. Möglich jedoch, dass es auch eine Art gab, die sich in Eis und Schnee wohl fühlte.
„Nicht alle“, sagte ich und damit gab sie sich zufrieden.
„Bei den Mühlreuters ist nichts mehr so, wie es war“, begann sie nach einer Weile.
„Diese Mühlreuters kenne ich nicht, du auch nicht und ich will sie auch nicht kennenlernen. Gibt’s denn nichts Besseres zu reden? Es schneit, wir sitzen im Trockenen und haben einen schönen Blick auf einen unvergleichlichen Gebirgssee.“
„Das Leben der Familie ist zerstört, seitdem Vanessa verschwunden ist.“
„Wer weiß, warum sie abgehauen ist. Für ein junges Mädchen, das dazu noch hübsch ist, gibt es reichlich Gründe, so ein Bergnest am Ende des Tales zu verlassen.“
„Hast du nicht gehört, was sie an der Theke noch erzählt haben?“
„Was interessiert mich das dumme Geschwätz dieser Almöhis?“
„Einer hatte in jener Nacht über Mühlreuters Haus ein weißes Flugwesen gesehen.“
„Papperlapapp.“
„Da war es wieder“, kreischte sie, sprang auf, kniete vor ihrem Rucksack und begann, ihre Sachen einzupacken.
„Was hast du vor?“
„Ich halte das hier nicht aus.“
„Beruhige dich, es ist alles in Ordnung.“
„Hier kann ich auf keinen Fall bleiben.“
„Und wo sollen wir hin? Den Abstieg können wir jetzt nicht machen. Lebensgefährlich ist das mitten in der Nacht.“
„Egal wie, ich gehe hinunter.“
„Und was war heute Nachmittag? Alles vergessen? Geröllfeld? Felswände? Abgrund?“
Sie schob ihren Rucksack in die Ecke und kroch wieder neben mich.
„Guck wenigstens draußen nach, was das war.“
Große Lust hatte ich nicht, aber so gab sie ja auch keine Ruhe.

Es schneite nicht mehr. Die Wolken waren weggezogen und der Mond beleuchtete von seinem Platz über dem Felsmassiv die Alm, schönes bläuliches Licht auf dem Schnee. Ziemlich groß war er und kreisrund. Ich schlich um unser Zelt herum, konnte aber zunächst nichts entdecken. Fußspuren waren da. Ich erkannte das Profil meiner Wanderschuhe. Als ich zu den zwei Felsen hinauf schaute, kam mir doch nun auch unwillkürlich die Story von den schaurigen Gestalten in Eisgrotten in den Sinn. Kein Wunder, dass die Leute in den Bergen solche Geschichten erfanden und am Ende sogar glaubten, sie wären Realität. Hatten sie doch tagtäglich dieses bizarre Felsmassiv vor Augen. Und das sah nicht immer gleich aus, sondern änderte seine Gestalt stündlich, je nach Sonnenstand, Regen, Schneefall, Nebel und vor allem bei Vollmond. Da konnte schon mal die Fantasie mit einem durchgehen und das schönste Gebirgslatein in den Kopf kommen.
Nun packte mich die Neugier. Ich wollte mir die Höhle da oben genauer ansehen. Wann hatte ich schon mal die Gelegenheit, weiße Fledermäuse zu betrachten? Über die Felsbrocken kletterte ich hinauf. Am Eingang angekommen, sah ich schon ein wunderbares Exemplar an der Decke hängen. Schneeweiß und viel größer als ich es mir vorgestellt hatte. Das musste ich mir aus der Nähe ansehen. Ich ging hinein und betrachtete das Tier. Wo waren denn die Ohren? Vom Foto wusste ich, dass sie kopfunter baumelten wie die schwarzen. Vorsichtig berührte ich es mit dem Finger. In dem Moment wurde ich von einem eisigen Sog erfasst und beinahe von den Beinen gerissen. Erschrocken fuhr ich herum. Eine schneeweiße Mähne schleuderte mir ins Gesicht und stechend blaue Augen bohrten sich in meinen Hals. Mit eisigen Klauen packte mich das Ungeheuer. Ich stemmte beide Arme gegen seinen Körper, griff jedoch ins Leere und taumelte gegen die Wand. Verzweifelt zog ich mein Messer aus der Hosentasche, klappte es blitzschnell auf und als ich es erhob, wich mein Gegner zurück. Jetzt würde ich ihn erledigen. Aber o Schreck! Die Waffe glitt mir aus der Hand. Ich wollte sie aufheben, rutschte aus und stürzte zu Boden.
Ein lang anhaltender Schrei brachte mir das Bewusstsein zurück. Woher kam der? Lisa! Was war ihr passiert? Ich stützte mich am Felsen ab, um auf die Beine zu kommen. Wo war das weiße Ungeheuer? Nur stille Winterlandschaft, wohin ich blickte. Friedlich lag das Zelt am See im blausilbernen Licht. Dann war ja wohl doch alles in Ordnung. Wie lange war ich denn weg gewesen? Lisa würde schon warten. Ich ging los. Da kam sie mir schon entgegen. Erst nur schwach zu erkennen, dann immer deutlicher. In weißem Gewand schwebte sie auf mich zu. Wunderschön sah sie aus mit ihren wehenden Haaren, ihr Mund so rot. Sie kam näher, die Arme mir zugewandt. Ich fasste ihre Hände. So kalt. Ihr blutroter Mund lächelte mich an. Sie zog mich an sich. Ihre Zähne glitzerten silbern. Immer näher kamen die. Mein Messer! Wo war es? Ich riss mich los, lief zurück, sah schon die Klinge im Mondenschein blitzen, schnappte es, schnellte herum und hielt es der Frau entgegen. Da war sie verschwunden.

„Du warst lange weg, Martin. Ich war schon eingeschlafen“, sagte Lisa, als ich in das Zelt kroch. „Wie kalt du bist. Komm zu mir in den Schlafsack.“
Das war eine gute Idee.
„Hast du draußen etwas gefunden?“
„Gefunden, entdeckt, herausgefunden, wie du willst“, sagte ich. „Doch morgen ist auch noch ein Tag. Jetzt bin ich hundemüde und muss erst mal eine Runde schlafen.“
Das würde mir in der kuscheligen Enge auch sofort gelingen. Wenn die Sonne aufging und das weiße Ungetüm wieder in seiner Höhle baumelte, würde ich die Quelle finden, Teewasser holen und Lisa beim Frühstück mit leckerem Cornedbeef und Knäckebrot von den schaurigen Bestien erzählen, die vor vielen Jahren in Ungarn vertrieben worden waren. Hier oben hatten sie sich eingenistet und waren Jahrhunderte lang eingefroren. Durch die Erderwärmung tauten sie nun auf und trieben ihr Unwesen. Eines von denen hatte Mühlreuters Tochter das Leben ausgesaugt. Seitdem irrte Vanessa in Vollmondnächten im Gebirge umher.


►  Wenn wir von Liebe reden

Grenzorte


(Franz Kafka und Milena Jesenská in Gmünd - August 1920)

Tausendmal hatte er während all der schlaflosen Stunden von diesem Moment geträumt, Tag und Nacht das Liebeslied im Kopf: Milena, geliebte Milena. Auf der Fahrt von Prag hierher in diesen Ort an der Grenze bis zur letzten Sekunde die bange Frage. Wird es wahr werden? Wird der Zug aus Wien seine Liebste bringen? Er hatte sich schon vorgestellt, wie er unter den Aussteigenden zunächst diese kleine Frau im roten Seidenkleid, ihren lieblichen Lockenkopf und ihr unvergleichliches Lächeln entdecken würde, dann auf sie zueilen, ihr Gesicht in beide Hände nehmen, unentwegt in ihre Augen blicken, sie auf den Mund küssen, seinen Arm um sie legen, sie um das Bahnhofsgebäude herumführen, zusammen mit ihr die Gleise überqueren und Hand in Hand mit dieser geliebten Frau hinaus in das freie Feld gehen würde.
Nun lagen sie nebeneinander auf der Spätsommerwiese, hörten aus einiger Entfernung das schwere Stampfen einer Dampflokomotive und beobachteten von ihrem Platz auf der leichten Anhöhe, wie schwarzer Rauch sich langsam in der blauen Weite auflöste.
„Hattest du eine gute Reise, Milena?“
„Ich konnte es kaum erwarten, dich wieder zu sehen, Frank.“
„Was hast du deinem Mann gesagt?“
„Er war gar nicht zu Hause.“
“Mal wieder?“
“Ernst und die Frauen, ein Kapitel für sich. Du kennst ihn doch.“
„Armer kleiner Engel, warum tut man dir das an?“
„In deiner Nähe bin ich reich, Frank.“
„Du gehörst geliebt, Milena, geliebt und behütet.“
Sein Gesicht über ihrem Gesicht, er konnte sich nicht satt sehen, so zauberhaft der Anblick. In diesen Augen versinken wie ein Kieselstein im Wasser, bis ganz tief unten in den weichen Sand auf dem Meeresgrund. So musste es bei der Mutter gewesen sein, als er ein kleiner Junge war. Aber er war ein fast vierzigjähriger Mann und Milena nicht seine Mutter. Sie war anders. Ein loderndes Feuer war diese Frau. Ihre Lippen süß wie dunkelroter Wein. Er konnte nicht aufhören sie zu küssen. Ihr gebräunter Körper bebte, als er ihr zaghaft das Kleid von der Schulter zog. Ganz nah wollte er ihr sein, eins sein mit ihr, halb wahnsinnig vor Verlangen. Ihre Hand in seinem Haar, so sanft, so unnachgiebig zärtlich, ihr Bein sich unter seinen Körper windend, dann ihr Becken, begehrend. Eng umschlungen bewegten sich ihre Körper und rollten ein Stück weit die Anhöhe hinunter bis zum Ende der Wiese. Sie stöhnte, drängte, wollte alles, wollte ihn. ‚Ich kann nicht’, hämmerte es wild in seinen Schläfen. Abrupt löste er sich aus ihrer Umarmung, setzte sich auf und vergrub den Kopf in den Händen.
„Ich kann nicht.“ Er versuchte, den quälenden Hustenreiz zu unterdrücken.
Milena war aufgesprungen und rückte ihr Kleid zurecht.
„Frank, ich möchte schreien. Wie soll ich das verstehen?“
„Verzeih mir, Milena, es ist meine Schuld.“
„Was redest du für einen Unsinn? Kein Wunder, dass du husten musst.“
Sie setzte sich neben ihn und strich mit der Hand über seinen Rücken, bis er wieder ruhig atmen konnte.
„Wovor hast du Angst?“
Vom Wiesenrand knickte er eine Kleeblume ab und drehte den Stiel in der Hand.
„Warum hab ich dich hinuntergezogen in diese Hölle?“
“Wie meinst du das?“
„Ich bin anders, Milena, fremd, bin mir ja selbst fremd. Das macht mir Angst.“
„Nein und noch mal nein, Frank. Mir bist du nicht fremd. Du bist mir so nah wie sonst niemand auf der Welt.“
„Ich weiß“, sagte er leise. „Du bist ja auch anders. Ein Schatz bist du, unvergleichlich wertvoll. Doch ich hätte dich nicht drängen sollen, hierher zu kommen.“
„Habe ich nicht selbst entschieden, diese Reise zu machen? Ich fühlte mich keineswegs von dir gedrängt. Doch vielleicht ist es meine Schuld. Bedränge ich dich zu sehr?  Macht meine Anwesenheit dich krank?“
„Milena, jetzt redest du aber Unsinn. Denk doch an unsere Wiener Tage, ein paar Wochen ist das erst her. War ich einen Moment lang krank in deiner Gegenwart?“
„Nein, dir ging es wunderbar. Tag und Nacht waren wir zusammen, sind stundenlang gelaufen. Berge, Wälder, Schatten und Sonnenschein. Wie schön das war. Kein einziges Mal hast du gehustet. Alles war so klar.“
„Ja, das war es, Milena, klar und schön.“
„Warum ist jetzt alles anders? Was ist passiert in den wenigen Wochen?“, fragte sie.
„Ich hätte Wien nicht verlassen sollen ohne dich, Milena. Warum habe ich dich nicht mitgenommen nach Prag?“
Sie legte das Kleid über die angewinkelten Beine und verschränkte die Arme vor den Knien.
„Du bist ein Träumer, Frank“, seufzte sie.
Vor seinen Augen drehte sich die Blume wie eine rote Kugel. Behutsam legte er sie auf die Wiese.
“Unsere Träume sind kalt geworden wie die Spätsommersonne“, sagte er und hatte auf eine Weise recht. Die Sonne war mit einer Wolke davongezogen. Kühle hatte sich im feuchten Gras ausgebreitet und streifte an ihren Körpern hoch. Ein Hauch von Herbst lag in der Luft, nach einem Sommer, der eigentlich der Anfang für einen neuen Frühling werden sollte.
“Es riecht nach Abschied“, sagte er traurig.
„Ich könnte heulen, Frank. Was macht uns so ratlos?“
„Der Kälte können wir nicht entfliehen.“ Er griff nach der Taschenuhr und klappte den goldenen Deckel auf.
„Warum haben wir keine Chance? Woher kommt die Kälte?“
„Woher nur?“ Er strich mit dem Daumen über das Ziffernblatt, klappte den Deckel zu und schob die Uhr zurück in die Hemdtasche. „Jedenfalls können wir nichts dagegen tun. Gehen wir zum Bahnhof. Wenn wir uns ein wenig beeilen, erreichst du noch den Abendzug nach Wien.“
Er stand auf, nahm ihre Hand und half ihr hoch. Dann gingen sie den Weg zwischen den Feldern zurück.
“Liebst du ihn, Milena?“
“Ich liebe dich, Frank.“
“Und morgen fährst du mit ihm an den Wolfgangsee.“
“Was sollte ich denn tun?“
„Ach, Milena! Du stellst Fragen.“
„Ich schreibe dir dann aus St. Gilgen.“
Schreibe mir nie mehr, wollte er sagen, schwieg aber und führte sie über die Gleise, um das Bahnhofsgebäude herum auf den Bahnsteig.


Römischer Frühling



(Romain Rolland besucht Malwida von Meysenbug in Rom -  Mai 1890)

Schwarze Wolken verdunkelten den eben noch strahlend blauen Himmel über Rom. Frühlingsgewitter, schon seit Tagen. In seinem Kopf klang immer noch diese großartige Sonate nach, von Trauer und Hoffnung, von Unruhe und Aufbruch, Adagio Sostenuto. Beethoven. Seit seiner Kindheit begleiteten ihn die Schöpfungen dieses Genius und hatten ihm schon so oft Rettung aus seelischer Not gebracht.
Vor ihm auf dem Schreibtisch lagen drei Blätter aus veilchenblauem Papier, darauf akkurate Zeilen in großer, klarer Schrift. Romain Rolland griff nach dem Brief und las: ‚leidenschaftliche Freundschaft…zunichte gewordene Illusion’. Malwida von Meysenbug hatte diese Worte geschrieben. Sie erwartete eine Erklärung. Ach, sie wusste ja nichts, seine Idealistin. Er war doch wie immer gewesen, mal schweigsam, mal gesprächig. Warum hatte sie plötzlich kein Vertrauen mehr zu ihm? Sie konnte ihm nichts vorwerfen. Nicht wegen des Klavierspiels war er in den vergangenen Tagen der Villa Mattei ferngeblieben. Es störte ihn nicht, wenn Donna Laura Minghetti bei Einladungen in ihren Salon ankündigte, Signore Rolland würde kommen und wieder spielen. Nein, am Piano kannte er keine Schüchternheit. Da hatte er nur die Kompositionen der großen Meister im Kopf und vergaß alles um sich herum.
Der Grund für sein Fernbleiben war ein anderer, aber das konnte sie nicht wissen. Konnte sie denn sehen, wie es in ihm loderte? Unmöglich, sein Geheimnis preiszugeben, es ging ja nicht um ihn allein. Sofia. Er konnte dieses wunderbare Mädchen nicht kompromittieren, zumal sie in ihrer jugendlichen Fröhlichkeit gar nichts ahnte von den Leiden eines törichten Verehrers. Dieses Feuer in seiner Brust. Würde sie es denn verstehen, die Verfasserin der ‚Memoiren einer Idealistin’? Andererseits, wer könnte die Flammen besser löschen, als sie, seine Freundin mit dem Weitblick nach einem langen, bewegten Leben? Nur, wollte er das überhaupt? Diese Leidenschaft fesselte ihn so sehr, dass er oft an nichts anderes mehr denken konnte. Aber war sie nicht auch eine Quelle seines Schaffens? Ein kleiner Roman von Liebe und Leidenschaft war in den vergangenen Wochen daraus erwachsen.
Er hatte ihr einen Antwortbrief geschrieben. Heute wollte er die Besuche in der Via della Polveriera endlich wieder aufnehmen und ihr bei dieser Gelegenheit seine Zeilen zukommen lassen. Wie wäre denn das vergangene halbe Jahr in Rom gewesen ohne seine liebe Freundin? Er konnte seinem Lehrer in Paris nicht genug danken dafür, dass er ihn dieser weitgereisten und belesenen Frau vorgestellt hatte. So ließ er Piano und Schreibtisch in dem kleinen Mansardenzimmer im Palazzo Farnese zurück und machte sich auf den Weg.
Richtig warm war es noch geworden an diesem Maitag. Die Sonne strahlte wieder, als hätte es die Wolken nie gegeben. Fräulein von Meysenbug erwartete ihn erst am frühen Abend, so konnte er gemächlich durch die Straßen und Gassen dieser unvergleichlichen Stadt schlendern, auf ihren einzigartigen Plätzen den Atem dieser Welt der Kunst und Poesie spüren. Dort oben auf dem Janiculum jenseits des Tiberflusses hatte er zum ersten Mal in seinem Leben sich selbst erlebt. Freiheit. Ungeheuren Schaffensdrang hatte er gefühlt und die Kraft abzuheben und zu fliegen, die ganze Menschheit unter sich mit all den herrlichen Geschöpfen aus uraltem Gestein, aus weißem Marmor und in wunderbaren Formen und Farben, uralt und so nah.
Neben dem Obelisken machte er Halt. Ein Löwe auf einem pyramidenförmigen Steinsockel schleuderte ihm einen dicken Wasserstrahl entgegen und ließ das kühle Nass unaufhörlich in ein rundes Becken strömen. Ein Kutscher tränkte hier gerade sein Pferd und Romain nahm die Gelegenheit wahr, sich die heiße Stirn zu kühlen, dankbar für den Reichtum dieser Stadt, die für jedermann Erquickung bereit hielt.
Auf dem Corso herrschte wieder reges Treiben. Hier gab es alles zu kaufen, was man sich erträumte, Lederbeutel und Bücher, Jacken und Hüte, Obst und Blumen. Alle Menschen waren fröhlich miteinander, ganz anders als in den nordischen Gegenden, wo manchem der Missmut im Gesicht geschrieben schien. Männer standen in Gruppen, redeten miteinander.
Und da. So ein liebes Gesicht. So wunderschöne braune Augen. Auf der Stufe vor einem Bäckerladen saß ein Mädchen, blickte verträumt in den blauen Himmel, das orangeblau karierte Schultertuch hatte es abgestreift und neben sich gelegt. Das Mädchen erinnerte ihn an Sofia. Doch Sofia würde niemals auf der Gasse sitzen und Kleidungsstücke ablegen. Wenn er es andererseits recht überlegte, mit einem Bäckermädchen wäre wohl einiges einfacher, als mit der Tochter eines Marquis. Um deren Hand könnte er ja doch niemals anhalten.
Fräulein von Meysenbug wohnte nun schon seit fünfzehn Jahren in der Via della Polveriera  am südlichen Rande der Stadt. Rom war nach Kassel, Detmold und London ihre Wahlheimat. Sie kannte sich dort bestens aus und war bei den Veranstaltungen der Kreise des Adels und der Kunst stets gern gesehen. Davon profitierte er, hatte sie ihm doch den Zugang zu den Salons und Parks ermöglicht, in denen sich das kulturelle Leben von Rom abspielte. Anfangs hatte er sich gewundert, dass sie in einem eher ärmlichen Viertel wohnte. Aber dann merkte er, dass sie umgeben war von den ältesten antiken Stätten, sowie dem gigantischen Kolosseum und Michelangelos Moses in der nahegelegenen Kirche. Das war eine andere Art von Reichtum.
Etwas beklommen war ihm zumute, als er die dunkle Treppe zum ersten Stock hinaufstieg, doch angenehm kühl war es hier. Kinder spielten und lärmten in der Art, wie Kinder es eben tun. Als die Haushälterin Trina ihm öffnete und er die große Diele betrat, empfand er ein herzliches Willkommen, fühlte sich sofort wie auf einer hellen Insel der Ruhe. Trina führte ihn zur Tür des Salons, klopfte und wartete auf das ‚Herein’.
„Signore Rolland“, sagte sie und die zierliche weißhaarige Frau auf dem Stuhl vor dem Sekretär drehte sich herum, erhob sich und kam mit für ihr fortgeschrittenes Alter sehr leichten Schritten auf ihn zu. Lange hielt sie seine Hände in den ihren und schaute ihn an mit ihren klaren Augen, die mehr als Worte sagten und alle Unsicherheit fortwehten.
„Sie sind ja noch schmaler geworden, junger Freund. Ich fürchte, Sie haben nicht genug gegessen in ihrem Studierzimmer. Soll Trina Ihnen erst einmal ein Sandwich machen?“
„Nein, nein, zu gütig“, sagte Romain eilig.
Sie schickte ihn mit einem Wink zum Kolosseumfenster, wo er seinen gewohnten Platz in der Sofaecke einnahm, und setzte sich ihm gegenüber in ihren Lehnsessel.
„Ich freue mich über Ihren Besuch, umso mehr, als doch meine Abreise nach Bad Ems und anschließend nach Versailles bevorsteht“, begann sie mit ihrer sanften Stimme. „Die Erinnerung an unsere gemeinsamen Unternehmungen hier in Rom und in der Umgebung ist viel zu kostbar, als dass wir uns mit einem Misston voneinander verabschieden sollten.“
Romain atmete auf. Sie hatte Recht. Er sah die Marmorbank am Ende der Eichenallee wieder vor sich, auf der sie gemeinsam gesessen hatten, dachte an den Spaziergang auf der Via Appia. Nicht zu vergessen die Kutschfahrt in die Campagne, Berge, Vulkanseen und wunderbare Natur. Vor allem aber dachte er an Abende wie diesen.
„Die Freude ist ganz meinerseits, verehrtes gnädiges Fräulein. Ich teile Ihre Gedanken über die Kostbarkeit unserer Freundschaft. Doch… Sie haben mir einen Brief geschickt, Ihre verlorene Illusion, Sie wünschen eine Erklärung“
„Weil ich mich um Ihre Zukunft sorgte, mein lieber junger Freund. Sehe ich doch für Ihren Weg die Ideale der Kunst, wir redeten darüber. Sie sind geschaffen für die Musik und die Dichtung.“
Ja, das war seine liebe Freundin, sie glaubte an das in ihm, was ihm das Wichtigste überhaupt war, wichtiger als Erfolg und Geld, seine Zukunft auf dem Gebiet der Kunst. Ihr Vertrauen in seine Schöpferkraft bestärkte ihn im Glauben an sich selbst und gab ihm Kraft, diesen sicherlich beschwerlichen Weg auf einsamen Pfaden allen anderen vorzuziehen.
 „Ich fühlte eine Disharmonie bei unseren Treffen“, fuhr Malwida fort, „dunkle Schatten sah ich in Ihrem Gesicht. Da fürchtete ich, diese Ideale, unsere Ideale, ja, diese Entwicklung Ihrer Begabungen könnte gestört werden.“
Alles, was er jetzt hätte erklären können, hatte er aufgeschrieben. Und dass er sie von ganzem Herzen liebte, konnte er ohnehin besser schreiben als sagen. Er fühlte das Briefkuvert in seiner Jackentasche. Ja, er liebte sie, seine Idealistin, die ihm nur Gutes getan hatte.
Ihr Blick wanderte zum Pianino. Romain verstand sofort. Er erhob sich,  ging ohne weitere Worte zum Schemel, setzte sich und klappte den Deckel auf. Dann fuhren seine Finger über die Tasten, langsam und schnell und füllten die Töne den Raum mit dem Zauber einer wunderbaren Welt aus Melodien.
Lange ließ er das Musikstück in sich ausklingen, dann klappte er den Deckel wieder zu und ging still zurück an seinen Platz.
Jedes Wort würde jetzt den Zauber zerstören. So saßen sie schweigend und jeder hatte seinen eigenen Traum.
Malwida träumte in ihre Vergangenheit, ein langes Leben, ausgefüllt mit allem, was ein Menschenherz bewegen konnte, mit Tragödien, aber auch mit großem Glück und dem unerschütterlichen Glauben an ihre Ideale, die alles Vergängliche überdauern würden.
Romain dagegen träumte von einer neuen Zeit, von einer Zukunft als ungestümer Schöpfer einer musikalischen Dichtung, wie eine Symphonie aus Tönen, einen musikalischen Roman sah er entstehen.
Es war Nacht geworden, als er sich zum Aufbruch bereit machte. Das Briefkuvert legte er der Freundin auf den Tisch, bevor er sich verabschiedete und durch die stillen Straßen der ewigen Stadt den Heimweg antrat.

Aus: Wenn wir von Liebe reden