Heute früh hat Martin zum letzten Mal drei Gedecke auf die
Küchentheke gestellt. Letztes Frühstück zu dritt in diesem Haus. Nie mehr wird
Aaron mit dem Mofa von der Schule kommen, beim Hereinkommen „Papa, ich bin da“
rufen, mit ihm zusammen Mittag essen und „Ich fahr zu Rudi“ sagen. Morgen wird
er Aaron, Hund und Mofa wegbringen, zu seiner Mutter.
Es gibt keinen anderen Weg. Ohne Helen kann er in diesem Haus
nicht wohnen bleiben. Der Triumphblitz in ihren Augen, heute Morgen beim
Abschied. Er spürt ihn noch in der Herzgegend. „Wir hören voneinander“, hören
voneinander …
Den ganzen Tag über hat ihn das kaputt gemacht, den ganzen
Nachmittag hat er geheult. Sein Tagebuch neben der leeren Kaffeetasse auf dem
Nachttisch. Er nimmt es in die Hand. Streicht über das dunkelrote Leder, so
weich. Überall hat er es dabei. Was würde er nur tun ohne diesen geduldigen
Zuhörer? Was soll aus ihm nur werden?
Es wird still sein hier im Haus, wenn er morgen Nachmittag von
seiner Mutter zurückkommt, totenstill. Die Geräusche von der Straße werden
nichts mit ihm zu tun haben, von weit her werden sie kommen. Rasenmäher,
Traktoren und Stimmen in Watte gepackt. Genau wie jetzt. Wieder wird er auf dem
Sofa liegen und die Lichtstreifen der Abendsonne werden ganz langsam an der
Wand entlang wandern, das Bücherregal erreichen, von Lücke zu Lücke springen,
bis zum Boden, bis sie verschwunden sind. Er wird darauf warten, dass es dunkel
wird in diesem Haus. Auf nichts sonst wird er warten, auf niemanden.
Von Helen ist er kuriert. Mit ihr will er nichts mehr zu tun
haben, wird von ihr befreit sein, ein für alle Mal. Wie konnte er nur in diese
Abhängigkeit geraten? Der Weg ist zu Ende, hat sie gesagt, sie beide wären an
ihrer kaputten Jugend gescheitert. Nein, nein, nicht die kaputte Jugend. Sie
ist im Irrtum. Der Grund ist ein anderer. Helen bringt es nicht fertig, ihn
neben sich zu akzeptieren, einen Hausmann. Das wollte er ihr noch sagen an dem
Abend, als sie an der Küchentheke saßen und sie endlich Klartext redete. Vieles
wollte er ihr noch sagen, zum Beispiel, dass sie selbst ihn doch unbedingt als
Hausmann haben wollte, seinerzeit, als Aaron klein war.
Übermorgen wird er sich das möblierte Zimmer ansehen. Nicht hier
im Ort, sondern im Nachbardorf. Mitleidige Blicke könnte er nicht ertragen.
Dann Schrittchen für Schrittchen seinen Weg in die Freiheit organisieren. Er
glaubt fest daran, dass er seine innere Ruhe wieder findet und irgendwann auch
wieder schlafen kann.
Als sie vor einem Jahr in dieses Haus einzogen, konnte er sich nicht
vorstellen, jemals wieder auszuziehen. Alles war so, wie er es sich erträumt
hatte, offene Räume, Holztreppe, Innenhof. Gut durchgeplant und liebevoll
ausgestattet, in warmen Farben. Zugegeben, es stimmte da schon nicht mehr so
richtig zwischen ihnen. Die getrennten Schlafzimmer sollten eine Chance sein, Distanz
ermöglichen, damit sie sich nicht von ihm bedrängt fühlte. Irgendwann würde sie
wieder so sein wie früher, zärtlich und offen. Niemand außer ihm kannte diese
Helen. Sie würden schon wieder zusammenfinden, Karriere und Erfolg nicht mehr
so wichtig für sie sein. Wenn sie doch endlich aufhören würde, verbissen ihren
beruflichen Zielen nachzujagen!
Was zieht sie zu dem anderen Mann? Warum fühlt sie sich von dem
nicht eingeengt? Täglich ist sie mit ihm zusammen, von morgens bis abends und
nun auch in den Nächten. Mit ihm ist sie glücklich. Gemeinsam gehen sie zum
Tanzen und besuchen Konzerte. Sogar eine Reise haben sie gebucht. Selbst für
Urlaub hat sie plötzlich Zeit.
Martin wischt die Tränen ab, obwohl er weiß, dass das nichts nützt,
dass er sich nicht wehren kann gegen die Traurigkeit, und schon gar nicht, wenn
er jetzt aufsteht, zum Plattenspieler schlurft, sich neben den Hund auf den
Teppich legt und wieder und wieder diese Stimme hört und die Gitarre, wie sie
weint, wieder und wieder, er weiß nicht mehr, wie oft, musste die
Langspielplatte schon neu kaufen, weil er den Kratzer nicht ertragen konnte,
den kleinen Kratzer. Weil das Lied so kurz ist, muss er die Nadel immer wieder
neu aufsetzen, immer wieder den Anfang finden, I love you...nothing I can do...destiny...
(Song:
Destiny, José Feliciano, Anne Murray 1970)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen