(Romain Rolland besucht
Malwida von Meysenbug in Rom - Mai 1890)
Schwarze Wolken verdunkelten den eben noch strahlend blauen Himmel
über Rom. Frühlingsgewitter, schon seit Tagen. In seinem Kopf klang immer noch
diese großartige Sonate nach, von Trauer und Hoffnung, von Unruhe und Aufbruch,
Adagio Sostenuto. Beethoven. Seit seiner Kindheit begleiteten ihn die
Schöpfungen dieses Genius und hatten ihm schon so oft Rettung aus seelischer
Not gebracht.
Vor ihm auf dem Schreibtisch lagen drei Blätter aus veilchenblauem
Papier, darauf akkurate Zeilen in großer, klarer Schrift. Romain Rolland griff
nach dem Brief und las: ‚leidenschaftliche Freundschaft…zunichte gewordene
Illusion’. Malwida von Meysenbug hatte diese Worte geschrieben. Sie
erwartete eine Erklärung. Ach, sie wusste ja nichts, seine Idealistin. Er war
doch wie immer gewesen, mal schweigsam, mal gesprächig. Warum hatte sie
plötzlich kein Vertrauen mehr zu ihm? Sie konnte ihm nichts vorwerfen. Nicht
wegen des Klavierspiels war er in den vergangenen Tagen der Villa Mattei
ferngeblieben. Es störte ihn nicht, wenn Donna Laura Minghetti bei Einladungen
in ihren Salon ankündigte, Signore Rolland würde kommen und wieder spielen.
Nein, am Piano kannte er keine Schüchternheit. Da hatte er nur die
Kompositionen der großen Meister im Kopf und vergaß alles um sich herum.
Der Grund für sein Fernbleiben war ein anderer, aber das konnte
sie nicht wissen. Konnte sie denn sehen, wie es in ihm loderte? Unmöglich, sein
Geheimnis preiszugeben, es ging ja nicht um ihn allein. Sofia. Er konnte dieses
wunderbare Mädchen nicht kompromittieren, zumal sie in ihrer jugendlichen
Fröhlichkeit gar nichts ahnte von den Leiden eines törichten Verehrers. Dieses
Feuer in seiner Brust. Würde sie es denn verstehen, die Verfasserin der ‚Memoiren
einer Idealistin’? Andererseits, wer könnte die Flammen besser löschen, als
sie, seine Freundin mit dem Weitblick nach einem langen, bewegten Leben? Nur,
wollte er das überhaupt? Diese Leidenschaft fesselte ihn so sehr, dass er oft
an nichts anderes mehr denken konnte. Aber war sie nicht auch eine Quelle
seines Schaffens? Ein kleiner Roman von Liebe und Leidenschaft war in den
vergangenen Wochen daraus erwachsen.
Er hatte ihr einen Antwortbrief geschrieben. Heute wollte er die
Besuche in der Via della Polveriera endlich wieder aufnehmen und ihr bei dieser
Gelegenheit seine Zeilen zukommen lassen. Wie wäre denn das vergangene halbe
Jahr in Rom gewesen ohne seine liebe Freundin? Er konnte seinem Lehrer in Paris
nicht genug danken dafür, dass er ihn dieser weitgereisten und belesenen Frau
vorgestellt hatte. So ließ er Piano und Schreibtisch in dem kleinen
Mansardenzimmer im Palazzo Farnese zurück und machte sich auf den Weg.
Richtig warm war es noch geworden an diesem Maitag. Die Sonne
strahlte wieder, als hätte es die Wolken nie gegeben. Fräulein von Meysenbug
erwartete ihn erst am frühen Abend, so konnte er gemächlich durch die Straßen
und Gassen dieser unvergleichlichen Stadt schlendern, auf ihren einzigartigen
Plätzen den Atem dieser Welt der Kunst und Poesie spüren. Dort oben auf dem
Janiculum jenseits des Tiberflusses hatte er zum ersten Mal in seinem Leben
sich selbst erlebt. Freiheit. Ungeheuren Schaffensdrang hatte er gefühlt und
die Kraft abzuheben und zu fliegen, die ganze Menschheit unter sich mit all den
herrlichen Geschöpfen aus uraltem Gestein, aus weißem Marmor und in wunderbaren
Formen und Farben, uralt und so nah.
Neben dem Obelisken machte er Halt. Ein Löwe auf einem
pyramidenförmigen Steinsockel schleuderte ihm einen dicken Wasserstrahl
entgegen und ließ das kühle Nass unaufhörlich in ein rundes Becken strömen. Ein
Kutscher tränkte hier gerade sein Pferd und Romain nahm die Gelegenheit wahr,
sich die heiße Stirn zu kühlen, dankbar für den Reichtum dieser Stadt, die für
jedermann Erquickung bereit hielt.
Auf dem Corso herrschte wieder reges Treiben. Hier gab es alles zu
kaufen, was man sich erträumte, Lederbeutel und Bücher, Jacken und Hüte, Obst
und Blumen. Alle Menschen waren fröhlich miteinander, ganz anders als in den
nordischen Gegenden, wo manchem der Missmut im Gesicht geschrieben schien.
Männer standen in Gruppen, redeten miteinander.
Und da. So ein liebes Gesicht. So wunderschöne braune Augen. Auf
der Stufe vor einem Bäckerladen saß ein Mädchen, blickte verträumt in den
blauen Himmel, das orangeblau karierte Schultertuch hatte es abgestreift und
neben sich gelegt. Das Mädchen erinnerte ihn an Sofia. Doch Sofia würde niemals
auf der Gasse sitzen und Kleidungsstücke ablegen. Wenn er es andererseits recht
überlegte, mit einem Bäckermädchen wäre wohl einiges einfacher, als mit der
Tochter eines Marquis. Um deren Hand könnte er ja doch niemals anhalten.
Fräulein von Meysenbug wohnte nun schon seit fünfzehn Jahren in
der Via della Polveriera am südlichen
Rande der Stadt. Rom war nach Kassel, Detmold und London ihre Wahlheimat. Sie
kannte sich dort bestens aus und war bei den Veranstaltungen der Kreise des
Adels und der Kunst stets gern gesehen. Davon profitierte er, hatte sie ihm
doch den Zugang zu den Salons und Parks ermöglicht, in denen sich das
kulturelle Leben von Rom abspielte. Anfangs hatte er sich gewundert, dass sie
in einem eher ärmlichen Viertel wohnte. Aber dann merkte er, dass sie umgeben
war von den ältesten antiken Stätten, sowie dem gigantischen Kolosseum und
Michelangelos Moses in der nahegelegenen Kirche. Das war eine andere Art von
Reichtum.
Etwas beklommen war ihm zumute, als er die dunkle Treppe zum
ersten Stock hinaufstieg, doch angenehm kühl war es hier. Kinder spielten und
lärmten in der Art, wie Kinder es eben tun. Als die Haushälterin Trina ihm
öffnete und er die große Diele betrat, empfand er ein herzliches Willkommen,
fühlte sich sofort wie auf einer hellen Insel der Ruhe. Trina führte ihn zur
Tür des Salons, klopfte und wartete auf das ‚Herein’.
„Signore Rolland“, sagte sie und die zierliche weißhaarige Frau
auf dem Stuhl vor dem Sekretär drehte sich herum, erhob sich und kam mit für
ihr fortgeschrittenes Alter sehr leichten Schritten auf ihn zu. Lange hielt sie
seine Hände in den ihren und schaute ihn an mit ihren klaren Augen, die mehr
als Worte sagten und alle Unsicherheit fortwehten.
„Sie sind ja noch schmaler geworden, junger Freund. Ich fürchte,
Sie haben nicht genug gegessen in ihrem Studierzimmer. Soll Trina Ihnen erst
einmal ein Sandwich machen?“
„Nein, nein, zu gütig“, sagte Romain eilig.
Sie schickte ihn mit einem Wink zum Kolosseumfenster, wo er seinen
gewohnten Platz in der Sofaecke einnahm, und setzte sich ihm gegenüber in ihren
Lehnsessel.
„Ich freue mich über Ihren Besuch, umso mehr, als doch meine
Abreise nach Bad Ems und anschließend nach Versailles bevorsteht“, begann sie
mit ihrer sanften Stimme. „Die Erinnerung an unsere gemeinsamen Unternehmungen
hier in Rom und in der Umgebung ist viel zu kostbar, als dass wir uns mit einem
Misston voneinander verabschieden sollten.“
Romain atmete auf. Sie hatte Recht. Er sah die Marmorbank am Ende
der Eichenallee wieder vor sich, auf der sie gemeinsam gesessen hatten, dachte
an den Spaziergang auf der Via Appia. Nicht zu vergessen die Kutschfahrt in die
Campagne, Berge, Vulkanseen und wunderbare Natur. Vor allem aber dachte er an
Abende wie diesen.
„Die Freude ist ganz meinerseits, verehrtes gnädiges Fräulein. Ich
teile Ihre Gedanken über die Kostbarkeit unserer Freundschaft. Doch… Sie haben
mir einen Brief geschickt, Ihre verlorene Illusion, Sie wünschen eine
Erklärung“
„Weil ich mich um Ihre Zukunft sorgte, mein lieber junger Freund.
Sehe ich doch für Ihren Weg die Ideale der Kunst, wir redeten darüber. Sie sind
geschaffen für die Musik und die Dichtung.“
Ja, das war seine liebe Freundin, sie glaubte an das in ihm, was
ihm das Wichtigste überhaupt war, wichtiger als Erfolg und Geld, seine Zukunft
auf dem Gebiet der Kunst. Ihr Vertrauen in seine Schöpferkraft bestärkte ihn im
Glauben an sich selbst und gab ihm Kraft, diesen sicherlich beschwerlichen Weg
auf einsamen Pfaden allen anderen vorzuziehen.
„Ich fühlte eine
Disharmonie bei unseren Treffen“, fuhr Malwida fort, „dunkle Schatten sah ich
in Ihrem Gesicht. Da fürchtete ich, diese Ideale, unsere Ideale, ja, diese
Entwicklung Ihrer Begabungen könnte gestört werden.“
Alles, was er jetzt hätte erklären können, hatte er
aufgeschrieben. Und dass er sie von ganzem Herzen liebte, konnte er ohnehin
besser schreiben als sagen. Er fühlte das Briefkuvert in seiner Jackentasche.
Ja, er liebte sie, seine Idealistin, die ihm nur Gutes getan hatte.
Ihr Blick wanderte zum Pianino. Romain verstand sofort. Er erhob
sich, ging ohne weitere Worte zum
Schemel, setzte sich und klappte den Deckel auf. Dann fuhren seine Finger über
die Tasten, langsam und schnell und füllten die Töne den Raum mit dem Zauber
einer wunderbaren Welt aus Melodien.
Lange ließ er das Musikstück in sich ausklingen, dann klappte er
den Deckel wieder zu und ging still zurück an seinen Platz.
Jedes Wort würde jetzt den Zauber zerstören. So saßen sie
schweigend und jeder hatte seinen eigenen Traum.
Malwida träumte in ihre Vergangenheit, ein langes Leben, ausgefüllt mit allem, was ein Menschenherz
bewegen konnte, mit Tragödien, aber auch mit großem Glück und dem
unerschütterlichen Glauben an ihre Ideale, die alles Vergängliche überdauern
würden.
Romain dagegen träumte von einer neuen Zeit, von einer Zukunft als
ungestümer Schöpfer einer musikalischen Dichtung, wie eine Symphonie aus Tönen,
einen musikalischen Roman sah er entstehen.
Es war Nacht geworden, als er sich zum Aufbruch bereit machte. Das
Briefkuvert legte er der Freundin auf den Tisch, bevor er sich verabschiedete
und durch die stillen Straßen der ewigen Stadt den Heimweg antrat.
Aus: Wenn wir von Liebe reden
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