Mittwoch, 17. Oktober 2018

Mister Fitch


Etwas Besseres konnte mir im Moment gar nicht passieren, als das undurchdringliche Schwarz zu überwinden und den hier arbeitenden Menschen zu vertrauen. Nachdem ich schon geglaubt hatte, an der Rezeption einen Höllentrip gebucht zu haben, saß ich nun entspannt, hörte von allen Seiten Stimmen aus der Dunkelheit und trotzdem gelang es mir, die Töne der Gitarre zu sehen, die über meinem Kopf im Rhythmus der Musik leuchtende Farbbänder schufen, Gelblichgrün allmählich zu einem satten Grün übergehend, sich wandelnd zu Bläulichgrün, weiter fließend über Violett zu einem rauschenden Rot, das sich langsam in Orange auflöste und wieder zusammenzog, ein nicht endendes Farbenspektakel. Der Wein schmeckte, wie er sollte, nach dunklen Beeren und aus einem Suppentöpfchen vor mir auf dem Tisch duftete es nach Tomaten und Basilikum.
Ich tastete vorsichtig entlang des Tellers über Messer. Gabel und Serviette, wie der gute Geist es mir geraten hatte, fand das Suppentöpfchen mittig hinter dem Teller, fasste die beiden Henkel, führte es ohne zu Kleckern an den Mund und schlürfte genüsslich. Wunderbar. Hier sah mich ja niemand. Dann stellte ich es vorsichtig an seinen Platz zurück, damit der Geist der Finsternis es nachher abräumen konnte. Jetzt krabbelten meine Finger zum Weinglas hinter dem Teller rechts. Ich nahm einen Schluck aus dem Glas und spürte Wärme sich wohlig in meinem Körper ausbreiten. Ein viel versprechendes Menü hatte ich an der Rezeption bestellt, die weiteren Speisen würde man mir hoffentlich nicht zu schnell hintereinander servieren. Nach einem anstrengenden Arbeitstag hatte ich dieses Nurfürmichsein mehr als verdient. Der Trubel in den Messehallen, die vielen Gesichter, Gespräche, das ständige Lächeln, das sich im Laufe des Tages in meinem Gesicht festgesetzt hatte, als könnte es niemals enden. Ich schob die Mundwinkel nach unten, dann in die Breite, zog den Mund quer zu einem breiten Grinsen, klimperte mit den Augen und bewegte die Brauen hoch und runter. Dieses Grimassenspiel machte ich eine ganze Weile. Wie gut das tat. Einfach nicht mehr funktionieren.
Der zweite Gang wurde hinter den Teller gestellt. Das Tasten danach war schon fast ein bisschen Routine. Zucchini, Gurken, Paprika und Karotten, mundgerecht in Streifen. Das Besteck ließ ich beiseite, griff zu und steckte die vitaminreichen knackigen Sticks nacheinander in den Mund.
Doch in dem Moment war es auch schon vorbei mit der Entspannung.
„Vergiss nicht den Dipp!“, ermahnte ein Gegenüber am Tisch.
War das nicht wie verhext? Einfach so tun, als hätte ich nichts gehört. Warum sollte denn ausgerechnet ich gemeint sein? Saßen doch genug Leute um mich herum und quatschten nach Herzenslust, viel lauter als in jedem anderen Restaurant. Doch der Typ war hartnäckig.
„Mit Avocado“, meinte er.
„Ja, ja, ja! Bereits bemerkt.“
„Ausschließlich natürliche Zutaten, Knoblauch ist auch drin.“
Hätte ich auch ohne seinen Hinweis gerochen. Apropos riechen. Mein Gegenüber roch verdammt gut, ganz eindeutig Fierce, war wohl auch Shoppen auf der Fifth.
„Schmeckt doch gleich besser mit Dipp, das musst du zugeben. Was bist du für eine?“
„Viel unterwegs“, antwortete ich. „Heute mal in Köln. Touristikmesse. Vielen Leuten vieles erzählt. Den ganzen Tag über gelächelt. Alles gegeben. Ausgepowert. Nur noch Ruhe ist angesagt.“
„Da bist du hier richtig", meinte der Schlaumeier. "Hier kannst du dich mal hängen lassen."'
Die Seele baumeln lassen, meinte er wohl. Ich ließ den Kopf baumeln. Doch Mister Fitch kannte keine Gnade.
„Ich bin auch viel unterwegs“, fuhr er fort. „Heute in Köln, wie du.“
„Ach ja. So ein Zufall. Und warum in Köln?“
„Interview.“
„Wen interviewst du?“
„Ich wurde interviewt. WDR. Mittagsmagazin.“
„Warst du zufrieden?“
„Kann man sagen. Ich nutze jede Gelegenheit, um meine Botschaft rüberzubringen.“
Hach! Dachte ich es mir doch gleich. Einer von diesen Engagierten. War mir da nicht gerade so ein Freak über den Weg gelaufen? Vor einigen Wochen? Vegetarier oder so was in der Richtung? Ätzend. Nein, nein, nein! Das fehlte mir noch, gerade jetzt beim Essen.
„Botschaft, ja, ja!“, murmelte ich.
„Musikalische Botschaft, wenn du verstehst.“
„Ach, Musiker? Ist ja interessant.“
„Gesang und Gitarre.“
„Mit Band?“
„Teils, teils. Mal allein mit Gitarre, dann auch mit Schlagzeug, Bass und Piano. Die Songs schreibe ich selbst. Nächste Woche kommt mein erstes Album raus.“
„Promotion also. Da kann man dir ja nur Erfolg wünschen.“
„Und dass mich bald mehr Leute kennen, es ist nicht einfach im Musikgeschäft.“
„Wohl wahr. Wovon handeln deine Songs?“
„Sie erzählen Geschichten. Von der Liebe, vor allem von der Liebe zum Leben.“
Das sagten sie alle. Bei ihm hörte es sich allerdings jetzt echt gut an. Eigentlich schien Mister Fitch ja ein ganz Netter zu sein. Und er roch betörend gut.
„Mit meiner Stimme und der Gitarre will ich die Menschen erreichen, Freude bringen und Mut machen, berühren.“
Hatte er mich schon berührt? Warum musste er auch einen so verdammt guten Duft verströmen? New York. Abercrombie & Fitch. Shoppingerlebnis der besonderen Art. Schlange stehen auf der Fifth, endlich herangewunken werden, vorbeihetzen an zwei durchgestylten Hereinlassern und dem gut gebauten Jüngling mit nacktem Oberkörper im Eingang, hinein in die abgedunkelten, discobeatbeschallten, parfumduftenden Gänge, die sich über drei durch schwach beleuchtete Treppen erreichbare nicht allzu große Ebenen erstrecken und sich im Gedränge zwischen Tischen und Warenregalen hindurchschieben, bis man wieder in der Schlange steht, diesmal an der Kasse, um mit der schönsten Papiertragetasche der Welt, aus der Polos, Kapuzenpullis, Hemden und T-Shirts duften wie Mister Fitch, hinauszugehen auf die Fifth Avenue, wo sie noch immer Schlange stehen, um hineinzukommen in dieses Shoppingparadies.
Die Wörter flogen über dem Tisch hin und her. Jimi Hendrix.
Janis Joplin. Cat Stevens. Whitney Houston, Robbie Williams, Silbermond und Jan Delay. Udo Lindenberg beim Echo. Luxuslärm in der Batschkapp. Auftritt in Berlin. Muss ich demnächst wieder hin. Volles Haus.
„Hier, koste mal.“
Er schob mir ein Filetstückchen in den Mund.
Ich tippte auf Lamm.
„Was sagst du zum gegrillten Gemüse und zu den Kartöffelchen?“
„Rosmarinduft, wunderbar.“
„Ach so, ja! Dein Duft ist betörend. Warst du in New York?“
„Wegen Fierce? Das hat mir jemand mitgebracht.“
Essen. Reden. Lachen. Die Farben der Gitarre in Auge und Ohr, Vanilleduft in der Nase. Die Mousse stand hinter meinem Teller. War es etwa schon so weit? Sollte es das nun gewesen sein? Hätte ich gedacht, dass der Abend mir noch Schmetterlinge in den Bauch zaubern würde? Ich streckte ein Bein aus, bis mein Fuß unter dem Tisch ganz sachte seinen berührte. Seine Zehen streichelten meine durch das Leder hindurch. Sexy. Jung. Sehr jung. Zu jung? Lange Haare? Dunkel? Enge Jeans?
„Wie wär’s zum Abschluss mit Champagner?“, fragte er im gleichen Moment, in dem ich es dachte.
„Einverstanden.“
Zarter Klang der Gläser, bevor das feine Gesöff durch unsere Kehlen perlte.
„Ich kenne ein nettes Bistro in der Nähe. Gute Musik, nicht zu laut. Wenn du magst, können wir da noch einen Cappuccino zusammen trinken“, schlug ich vor.
„Gerne!“
Eine Hürde war da noch. Wie kam ich mit Anstand aus dieser stockdunklen Höhle hinaus? Auf keinen Fall durfte ich mich so blöde anstellen wie beim Hereinkommen. Diese Panik! Das kam nicht gut.
„Dann lassen wir uns doch hinausführen“, sagte ich. 
„Ich bringe dich hinaus!“
„Du? Bist du so sicher?“
„Keine Angst. Ich kenne mich aus.“
Plötzlich ging alles ganz einfach. Mister Fitch nahm meine Hand. Ich vertraute ihm blind und ging Schritt für Schritt neben ihm, ohne zu schwanken. Der Weg kam mir gar nicht mehr so lang vor. Weiß der Himmel, wie er die Tür fand.
Dann im Foyer. Zurück in der Lichtwelt. Ich blinzelte.
Das war also Mister Fitch: Schmales Gesicht, dunkle, zurückgekämmte Haare und … ich stutzte … Sonnenbrille. Die Frau am Empfang kam herum und drückte ihm einen langen weißen Stock in die Hand.

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