Mittwoch, 17. Oktober 2018

Provencalische Leichtigkeit


(Provencereise 1844/1845)

Der Winter war vergangen und sie wusste nicht, ob sie sich über den strahlenden Frühlingsmorgen freuen sollte. Abschied lag in der Luft. Malwida von Meysenbugs letzter Sonntag in dieser unvergleichlichen Gegend. Allein der Blick aus dem Fenster würde ihr fehlen, wenn sie in vier Tagen das Paradies verlassen musste. Die Landschaft, so reich an Schönheit, so angenehm zum Leben.
Machte die üppige Natur in dem milden Klima das Leben leichter? Zauberte die Schönheit der Landschaft ein Lächeln auf die Gesichter der Menschen? Sie dachte an die Fischersleute, deren zwei hübsche Töchter sie vor einigen Tagen gemalt hatte und die sich gestern mit einem Korb herrlicher Früchte und Blumen bedankt hatten. Sie wohnten beengt, doch lachten sie viel und von den Früchten des Baumes vor ihrem Häuschen konnten sie noch anderen etwas abgeben. Eigentlich waren sie arm, doch es war eine andere Armut, als die der Menschen in der nordischen Heimat, die sich an bitterkalten Wintertagen eng zusammendrängten und um das tägliche Brot bangen mussten.
Malwida von Meysenbug schaute über den Orangenhain hinweg bis hinunter zum Meer. Auch sie fühlte sich reicher hier, bewegte sich freier, machte Dinge, die ihr in Detmold unmöglich schienen. Unsichtbare Lasten waren von ihren Schultern gefallen in den vergangenen Monaten. Das spürte sie beim Zusammenleben mit ihrer Schwägerin und deren Bediensteten, auf langen Wanderungen in die Umgebung, bei Gesprächen mit gut gelaunten Menschen auf Straßen und Plätzen und in den Salons und Gärten, wo sie in kleinen Kreisen ihr Miteinander mit einer erstaunlichen Leichtigkeit pflegten.
Diese neue Heiterkeit wollte sie nicht wieder hergeben, nicht in die Schwermut mancher Tage zurückkehren. Wie könnte sie dieses gewonnene Lebensgefühl mitnehmen, wenn die Kutsche unter der Palme vor dem Portal des Hauses Arnaud stehen würde, um die siebenköpfige Reisegruppe mit Sack und Pack für die Rückfahrt aufzunehmen?
Se beobachtete Herrn Ludwig mit den Kindern den Weg hinunter zum Meer gehen. Auch die beiden Jungen hatten sich verändert während der vergangenen Monate. Vor allem der lebhafte Wilhelm war ruhiger geworden. Daheim in Frankfurt würden sie ihrem Vater und ihrer Schwester Mathilde eine Menge zu erzählen haben.

Malwida packte Skizzenbuch und Bleistifte in die Leinentasche. Ihre Malutensilien brauchte sie auch heute wieder, auf ihrem letzten Ausflug in die Umgebung. Doch vorher ging sie hinüber in den Salon zum Frühstück, wo sie schon von Caroline erwartet wurde, die in luftigheller Seide gekleidet am Tisch saß. Mit einem Kuss auf die Stirn begrüßte sie ihre Schwägerin.
„Hast du auf mich gewartet?“
„Nun ja, nicht zu lange. Lass dich anschauen. Frisch wie der neue Frühling.“
„Das Gleiche kann ich von dir sagen“, antwortete Malwida und setzte sich Caroline gegenüber. „Du hast dich in den vergangenen Monaten gut erholt, man sieht es an deiner Gesichtsfarbe. Und nicht ein einziges Mal warst du krank in diesem Winter.“
„Ja, der Aufenthalt fern der Heimat war allein gesundheitlich gesehen ein voller Erfolg. Ich hoffe, die Wirkung hält an in unserem weniger angenehmen Klima und mein lieber Mann und Mathilde können sich auch noch daran freuen.“
„Fritz wird sich wundern, wenn er dich sieht und feststellt, dass die Unternehmung nicht umsonst war.“
„Alles in allem war die Zeit in der Provence doch auch für dich ein Gewinn, Liebes. Du musst es nicht bereuen, dass du mich begleitet hast. Wenn ich an deine traurigen Augen zu Beginn der Reise denke, kenne ich dich kaum wieder. Hier bist du aufgeblüht zu einer schönen Blume, heftig umschwärmt.“
Caroline hatte Recht, nur dass die Traurigkeit sich langsam wieder in ihr breit machte.
„Letztens habe ich beobachtet, wie unser Vermieter dich angesehen hat“, fuhr die Schwägerin fort. „Monsieur Arnaud ist ein rüstiger Witwer in den besten Jahren, sogar mit einigem Vermögen.“
„Bitte, Caroline.“
„Gut, es muss ja nicht gerade Monsieur Arnaud sein. Du bist hier umgeben von Verehrern. Wenn ich Herrn Ludwig glauben kann, warst du auf dem Tanzparkett in Toulon die Ballkönigin des Abends.“
„Herr Ludwig, das Nachrichtenblatt vom Place de Palmiers“, spottete Malwida. „Für kein Geschwätz ist er sich zu schade. Ich frage mich, wie er das mit seinen rudimentären Kenntnissen der französischen Sprache überhaupt macht.“
„Herr Ludwig ist ein Kapitel für sich, es muss aber doch etwas daran sein, was man erzählt.“
Ja, beim Ball in Toulon hatte die gesamte Gesellschaft im Kreis um sie und ihren schmucken Tänzer herum gestanden und ihnen zur Polka applaudiert. Doch wie sollte Caroline auch ahnen, dass das nur die halbe Wahrheit war. Ein besonderes Erlebnis in der Morgendämmerung hatte sie niemandem erzählt. Während der Fahrt entlang der Küstenstraße träumte sie sich über die stille Meeresfläche hinweg von dem Trubel bis zum Horizont, der plötzlich gesprengt wurde von der aufgehenden Sonne, die plötzlich wie ein gewaltiger Feuerball über dem Wasser stand. In dem Moment erkannte Malwida, wie klein und unbedeutend die Ballfreuden waren gegen die unbeschreibliche Größe der Natur.
„Den Tanzboden werde ich nicht vermissen und Zerstreuungen dieser Art nicht mehr suchen, liebe Caroline.“
„Na, ich weiß nicht.“
Die Schwägerin klingelte nach dem Mädchen. Sogleich kam Johanna mit der Kaffeekanne in den Salon und schenkte ihnen ein. Paul folgte ihr mit einem Bouquet in warm leuchtenden Rottönen.
„Ein Gruß von Monsieur Hugo für Mademoiselle von Meysenbug“, sagte der Junge, stellte die Blumenschale auf das Board und verschwand nach Johanna in der Küche.
Malwida spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. Jeden Tag machte er das. Monsieur Hugo hatte ihr auch angeboten, den Aufenthalt zu verlängern, sie könne in seinem Hause wohnen.
„Aber diese Aufmerksamkeiten wirst du vermissen, Malwida “, sagte Caroline, die sie lächelnd beobachtet hatte. „Täglich schickt der Mann dir Blumen und Einladungen. Wenn das keine Zeichen der Zuneigung sind.“ Sie  tupfte sich mit der Serviette den Mund ab.
„Du hast so viele Chancen hier. Manchmal frage ich mich, ich meine, im nächsten Jahr wirst du dreißig.“
Bemerkungen dieser Art kannte Malwida zu gut. Das Bestreben von Mutter, Vater und Geschwistern war klar. Man wollte sie unter die Haube bringen. Eigentlich wusste sie selbst nicht genau, wie ihre Zukunft aussehen sollte.
„Ich will dir nicht zu nahe treten“, fuhr Caroline fort. „Heute Abend bist du doch sicherlich wieder bei ihm zum Kränzchen. Von Frau zu Frau gesprochen: Wäre der nicht eine ideale Partie? Aristokrat aus besten französischen Kreisen, Besitzer dieses stattlichen Anwesens hier am Place des Palmiers, dazu in einer pittoresken Landschaft mit wohltuendem Klima. Dieser Mann hat ein Faible für deutsche Literatur und Musik. Das alles kommt dir doch entgegen. Oder stört dich seine Gehbehinderung?“, fragte Caroline frei heraus.
Malwida schüttelte entschieden den Kopf.
„Damit hättest du auch wenig zu tun, hat er doch genügend Vermögen, um jede nur mögliche Betreuung zu regeln.“
„Bitte, Caroline“, beschwor Malwida.
„Ist ja schon gut. Vergiss meine Worte. Ich sehe, du hast dein Musslinkleid angezogen. Das heißt, du machst heute wieder einen Ausflug.“
„Ja, dieser Tag gehört Pauline.“
„Das hätte ich mir ja denken können. Bestimmt hältst du mit deinem Bleistift noch ein paar Eindrücke fest. Lass dir von Johanna Brot und Käse einpacken.“
„Mach ich, liebe Schwägerin. Und du machst sicherlich jetzt gleich deinen Spaziergang, solange es noch nicht so heiß ist.“
„In einer halben Stunde. Wir sehen uns beim Abendessen zusammen mit Herrn Ludwig und den Knaben. Die werden von ihrer Exkursion auf die Halbinsel eine Menge zu berichten haben.“
„Hoffentlich nicht wieder, dass einer vom Esel gefallen ist“, lachte Malwida.
„Ich habe Herrn Ludwig Anweisung gegeben, auf den lebhaften Wilhelm besonders zu achten“, sagte Caroline. „Ach ja, unser Herr Ludwig. Da habe ich meinem Mann auch einiges zu berichten. Erzieher der Knaben und unser Reiseführer sollte er sein. Dabei mussten und müssen wir doch alle Angelegenheiten selber regeln.“
Obwohl ihr zu Herrn Ludwig als Reiseführer noch eine Menge eingefallen wäre, beschwichtigte Malwida und schaute auf das Wandboard: „Zumindest wird er dafür sorgen, dass die Muschelsammlung durch ein paar schöne Exemplare ergänzt wird. Erstaunlich, was die Kinder schon alles gesammelt haben.“

Im Schatten der hohen Palmen, die diesem Platz seinen Namen gegeben hatten, ging sie zum Palais von Bürgermeister Denis. Auch an ihn und seine Vorträge über die Erkundung der hiesigen pittoresken Landschaft würde sie sich gerne erinnern. Alphonse Denis hatte jahrelang Geschichten, Bilder, Geschichten und Informationen über seinen Ort gesammelt. Ein wunderbares Buch über Hyères, die Umgebung und die Inseln war daraus entstanden, das ihnen im Hause Arnauld zur Verfügung stand. Im Bürgermeisterhause wohnte Pauline. Sie kam aus Straßburg und hatte ebenfalls den Winter in der Provence verbracht. Zusammen wollten die Freundinnen einen Ausflug in die Berge machen, wie sie es oft getan hatten in den vergangenen Monaten.

Durch das geöffnete Fenster drang Musik nach draußen, eine Klaviersonate von Beethoven. Das war Pauline. Im Schatten einer Palme blieb Malwida stehen und stellte sich vor, wie die Freundin mit unglaublicher Leichtigkeit ihre Finger über die Tasten gleiten ließ. Klavierspielen war eine der Leidenschaften dieser talentierten jungen Frau. Die Melodie klang nach Abschied. Auch Pauline war in Abschiedsstimmung. Sie und ihre Schwester würden auch bald dieses gastliche Haus verlassen und abreisen.
Erst als das Musikstück verklungen war, ging Malwida hinein und ließ sich vom Hausdiener zu Pauline führen. Wie erwartet, saß die in Gedanken versunken vor dem Klavier. So kannte sie dieses sensible Wesen. Manchmal war die Freundin beim Musizieren so ergriffen, dass ihr Tränen über das Gesicht liefen. Malwida verstand das gut, erinnerte sie sich doch an die Zeit, als sie selbst achtzehn gewesen war, himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Lieber war ihr die heitere Pauline. Die wanderte plaudernd neben ihr, sammelte Pflanzen für ihre biologischen Forschungen und war immer auf der Suche nach Motiven zum Zeichnen.
Vorsichtig näherte sie sich der Pianospielerin und strich ihr sanft über die Schulter. Pauline schnellte herum und sprang auf. Sofort erhellte sich ihr Gesicht. Die Freundinnen schlossen einander in die Arme.
„Lass uns keine Zeit verlieren. Es ist ein Frühlingstag wie im Bilderbuch. Ich hole nur schnell Tasche und Sonnenhut aus meinem Zimmer. Wir treffen uns vor dem Haus“, rief sie und lief zur Tür.

Die beiden Frauen schlenderten durch die Gassen der Altstadt, vorbei an dem mächtigen runden Turm, überquerten den Marktplatz und gingen hinaus aus der Stadt, wo der Weg auf den Burgberg führte. Mit großen Steinen war er gepflastert und sehr holprig. Als sie eine Weile steil bergauf gegangen waren, blieb Pauline stehen.
„Puh, ist das anstrengend“, hechelte sie, „fühle mal mein Herz.“ Sie nahm Malwidas Hand und drückte sie an ihre Brust.
„Es pocht heftig, meine Kleine. Du brauchst eine Pause. Doch die paar Meter bis zu unserer Nische schaffst du noch“, ermunterte die Ältere und zog ihre Freundin hinter sich her, bis sie die Klostermauer erreicht hatten, wo sie sich im Schatten der bogenförmigen Mauernische ausruhen konnten.
„Wie schön es hier wieder ist und so still, als sei nichts geschehen“, sagte Pauline. „Kaum vorstellbar, dass hier noch vor einer Woche ein Derwisch an der Pinie gezerrt hat, weißt du noch?“
„Sicher. Der Mistral gehört zu dieser Gegend wie Felsen, Sand und Meer. Ich hatte auch Angst um den zierlichen Baum. Deshalb habe ich ihn schnell gemalt.“
Sie holte ihr Skizzenbuch hervor und blätterte darin, bis sie die Zeichnung gefunden hatte. „Hier siehst du das stürmische Intermezzo. Gut, dass es Papier und Bleistift gibt.“ Sie blätterte weiter. „Und das da bist du, Pauline. Wie dir der Sturm den Rock über den Kopf fegt.“
Sie lachten.
„Und das bist du auch“, fuhr Malwida fort, „am Bachufer sammelst du Pflanzen.“
„Für mein Herbarium. Da hast du mich heimlich gemalt, du kleine liebe Freundin. Du, jetzt juckt es mich in den Fingern. Lass uns auf Motivsuche gehen“, schlug Pauline vor.
„Einverstanden“
Sie wanderten hoch bis zum alten Gemäuer der Burganlage von wo sie in der südlichen Richtung das Meer mit den Inseln sahen und nach Osten hin endlos scheinende Bergketten.
Was hältst du von diesem Blickwinkel?“, fragte Malwida und zeigte auf die weite Ebene mit einem von Zypressen und Laubbäumen gesäumten Flusslauf, einer Kirche zwischen vereinzelten Häusern, idyllisch eingebettet vor der Kulisse des Massivs.
„Ausgezeichnet“, bestätigte die Freundin.
Auf einer Mauer ließen sie sich nieder und packten ihre Zeichensachen aus. Malwida hatte  eine Idee. Sie legte ihr Skizzenbuch der Freundin in den Schoß.
 „Heute machen wir es einmal ganz anders. Du zeichnest in mein Buch und ich in deines. Dann hat jede eine schöne Erinnerung an diesen Tag und all die gemeinsamen Tage vorher.“
Den Vorschlag fand Pauline ausgezeichnet und so zauberte jede Strich für Strich mit spitzem Bleistift das unbeschreibliche Panorama in das Buch der anderen.
‚Erinnerung an gemeinsam verbrachte Stunden in Freiheit und Liebe’, schrieb Malwida unter das ihrer Weggefährtin gewidmete Bild.
Auch Pauline schrieb eine Widmung unter ihr Werk:
‚Dort erhebt sich niemals Lärm….
Seinen Traum kann man träumen,
bis er endet
und ihn dann von vorne beginnen,
4. Mai 1845, P.’
Jede sah sich noch einmal die gesamte Bildersammlung der anderen an und ließ die provençalische Winterreise an sich vorbeiziehen. Dann tauschten sie die Bücher zurück und blieben schweigend nebeneinander sitzen, bis die Sonne sich schon zur Felsspitze hinuntersenkte.
„Kann eine Landschaft schöner sein? Berge, Täler und herrliche Gärten bis zum Meer. Ich kann mich gar nicht satt sehen“, begann Malwida.
„Die Sonne geht im Meer auf und in den Bergen unter. Das fällt mir jetzt erst auf. Traumhaft schön ist es hier oben, ich könnte ewig so sitzen bleiben“, schwärmte auch die Jüngere.
„Das Zusammenspiel von Formen, Farben und Licht, gerade zu dieser Stunde der tief stehenden Sonne. Genauso wie mein Lehrer es beschrieb“, erinnerte sich Malwida. „Jetzt erst verstehe ich, was Carl Morgenstern damit gemeint hat, das Schweben in der einzigartigen Landschaft, als wären wir selbst ein Teil davon. Wäre er doch jetzt hier! “
„Schweben in der Landschaft. Das hört sich gut an. Er muss ein faszinierender Lehrer sein. Du hast eine Menge von ihm gelernt.“
„Stimmt. Einige seiner Gemälde haben mich so gefesselt, dass ich sie unter seiner Anleitung nachgemalt habe. Terraccina zum Beispiel, mein Lieblingsbild von ihm.“
„War Carl Morgenstern auch hier in Südfrankreich zum Malen?“
„In Italien war er, aber die Landschaften auf seinen Bildern sind dieser hier sehr ähnlich. Felsen, Meer und Weite, Kompositionen in Orange- und Violetttönen, wie es sie in unseren nördlichen Gegenden gar nicht gibt.“
„War er nur dein Lehrer oder hat er dir mehr bedeutet?“
„In Frankfurt hatte ich einen Winter lang Unterricht bei ihm. Im vergangenen Jahr war das. Die Stunden hatte ich meinem Vater abgetrotzt. Von den Ölfarben habe ich ihm nichts erzählt. Für die habe ich eine goldene Kette und noch anderen Schmuck verkauft.“
„So etwas macht man doch nur, wenn man sich etwas ganz stark wünscht. Warst du in Carl Morgenstern verliebt?“
„In der Familie wurde gemunkelt. Du kennst das vielleicht, Pauline. Die Verbindung zu einem Maler hätte man nicht gern gesehen. Brotlose Kunst nannte man seine Arbeit.“
„Ja, ja, das kenne ich. Doch erzähl weiter.“
„Oft habe ich meinen Malerfreund im Stillen beobachtet in seinem Atelier auf der Zeil, wenn er an der Staffelei stand, in seine Arbeit versunken, ein schöner Mann. Ein bisschen war ich verliebt in ihn. Aber jetzt ist es vorbei.“
Pauline legte den Arm um Malwidas Schultern und drückte sie fest an sich.
„Und dann?“
„Es gibt nicht mehr viel. Ich bewunderte ihn. Ja, ich mochte ihn sehr. Der Abschied tat weh, als ich mit Mutter und Schwester zurückkehren musste nach Detmold. Von dort habe ich ihm einmal Skizzen geschickt und er hat mir per Brief Ratschläge gegeben.“
„Konntest du nicht in Frankfurt bleiben?“
„Das hätte mein Vater niemals erlaubt, Pauline. Niemals.“
„In Detmold hast du weiter gemalt.“
„Manchmal bin mit Malutensilien in der Tasche hinauf gewandert in den Palaisgarten, wo ich einen schönen Blick auf Stadt und Umgebung hatte.“
„Na, siehst du.“
„Beim Malen fehlte er mir sehr.“
„Wer? Ach ja, dein Morgenstern“, scherzte die Freundin.
„Jetzt bist du mein Abendstern, Pauline“, entgegnete Malwida lachend. „Schau mal, wie tief die Sonne steht.“

Es war schon dunkel geworden, als Malwida den Place de Palmiers überquerte, wo in dem Haus auf der gegenüberliegenden Seite der Kammerdiener von Monsieur Hugo ihr die Tür öffnete. Im Salon hatte sich wieder ein kleiner feiner Kreis zusammen gefunden. Nachdem sie mit Paulines Klavierbegleitung gesungen hatte vom Land, wo die Zitronen blühen, begab man sich auf die Terrasse und ließ sich in bequemen Korbsesseln nieder. Herrlich duftende bengalische Rosen rankten in langen Kränzen an zwei Säulen, sanft beleuchtet von vereinzelten Öllampen, ebenso wie die Myrthen und Orangenbäume.
An keinem Abend zuvor hatte sie die dunklen Schatten wahrgenommen, die das flackernde Licht auf die Gesichter warf. Nicht nur die Stunden mit diesen lieben Menschen würden ihr fehlen, auch Hugos  tägliche Blumengrüße und die darin versteckten kleinen Botschaften seiner Zuneigung. Er saß zu ihrer Linken und wies den Kammerdiener an, Tee und Gebäck zu servieren. Sie spürte seine Wärme und  dachte an das Angebot. Ein verführerischer Gedanke, in diesem Hause zu wohnen, in gediegenem Ambiente, mit reichlich ausgestatteter Bibliothek und einem Garten zum Träumen. Sollte diese wunderbare Zeit hier denn wirklich zu Ende gehen? Die anregenden Gespräche? Die Zuneigung der Menschen? Sie war aufgeblüht wie eine Blume, hatte Caroline gesagt. Das empfand sie selbst so. Nie war sie so umschwärmt, nie war das Leben so farbig gewesen.
Hatte sie sich jemals so leicht gefühlt?
So frei?
Doch wirklich frei?
War da nicht ein zartes Pflänzchen? In ihrem Herzen hatte es den langen Winter überstanden und begann sich zu regen, als wollte es den neuen Frühling begrüßen. Je näher der Tag der Abreise rückte, desto intensiver machte es sich bemerkbar. Die Erinnerung an den Herbsttag des vergangenen Jahres, den Tag der Abreise. Wie überrascht war sie gewesen, als Theodor Althaus in aller Herrgottsfrühe am Postwagen gestanden hatte. Sie sah ihn vor sich, ihren Apostel mit den warmen Augen und den dunklen Locken, in der Hand einen Blumenstrauß, den er ihr zum Abschied überreichte. Dazu ein Brief, den sie bei der ersten Postkutschenrast geöffnet hatte.
Der Hausherr unterbrach Malwidas Gedanken. Auf seinen Stock gestützt, stand er auf und redete: „Meine lieben Gäste. Wie freue ich mich, dass ihr heute wieder meiner Einladung gefolgt seid und mit mir zusammen den Abend verbringt. Wieder einmal habt ihr mir und uns wunderbare Stunden bereitet. Ich danke euch für eure Treue, für eure herrlichen Vorträge, mit denen ihr den Abend so farbig macht. Und, ach ja.“ Er schaute zu Malwida und seufzte. „Abschied tut weh. Muss es denn wirklich sein, meine Freundin?“
Er setzte sich und nahm ihre Hand in die seine.
Sie entzog sie ihm ganz sachte.
„Entschuldige…Entschuldigt mich bitte.“ Es fiel ihr schwer, die Tränen zurück zu halten. Sie stand auf und ging hinaus.
Draußen auf dem Place des Palmiers ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Sie lief zum Haus Arnaud und hinauf in ihr Zimmer. Vom Fenster aus schaute sie zu Hugos Haus hinüber und verfolgte durch den Tränenschleier, wie golden schimmerndes Licht seinem Haus entströmte.
Dann griff sie unter ihr Kopfkissen und hielt die süßeste Botschaft in der Hand: ‚I suoi pensieri in lui dormir non ponno.’
„Unsere Gedanken lassen uns keinen Schlaf finden“, flüsterte sie und drückte den Brief an ihre Brust. „Ich liebe dich, Theodor. Wäre ich doch leicht wie ein Vogel. Ich könnte sofort zu dir fliegen.“


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