(Durancetal und Col Bayard -
Mai 1845)
In der Frühe des 8. Mai 1845 stand der geräumige Reisewagen vor
dem Arnauld’schen Hause, voll bepackt mit Kisten und Taschen. Für Malwida von
Meysenbug, ihre Schwägerin Caroline mit den beiden Jungen Wilhelm und Alphons,
deren Erzieher Herrn Ludwig und den guten Dienstgeistern Johanna und Paul
gingen die Herbst- und Wintermonate in der Provence zu Ende. Das hieß,
liebgewonnene Annehmlichkeiten verlassen,
das milde Klima, wunderbare Freundschaften, Wanderungen in pittoresker
Landschaft, bei denen das Skizzenbuch Malwidas ständiger Begleiter war.
Monsieur Hugo ließ es sich nicht nehmen, ihr durch seinen Kammerdiener einen
Blumenstrauß mit auf den Weg zu geben, um ihr noch einmal zu sagen, dass sie
doch hätte bleiben können. Ihr Herz war schwer, als sie den Place de Palmiers
verließen und hinunterfuhren, dann auf der
Küstenstraße nach Westen in Richtung Toulon.
Caroline und sie hatten beschlossen, für die Rückfahrt nicht die
Route über das Rhônetal zu nehmen, weil dieser Fluss auf Grund der
Schneeschmelze sehr viel Wasser führte und eine Schiffspassage wie bei der
Anreise nicht möglich sein würde. Stattdessen wählten sie die Strecke über die
Dauphiné und Savoyen. Das war ein Teil
der Route, auf der NapoPaul nach der Flucht von der Insel Elba die Alpen
überquert hatte, um in Paris die Herrschaft zu übernehmen.
Die Fahrt ging bis Aix-en-Provence mit Übernachtung im „Hôtel des
Princes“ und am nächsten Tag durch das Durancetal,
wo Malwida zahlreiche Motive in ihrem Skizzenbuch festhielt, steile Ufer, dicht
an Felsen gebaute Häuser sowie das Stadttor von Manosque, wo sie am zweiten
Abend Station machten. Der dritte Reisetag brachte rechts der Strecke Blicke
auf die Voralpen von Digne, deren Bergketten zum Teil noch schneebedeckt
waren.
All diese Eindrücke wurden übertroffen, als sie die Provence
verließen und das Tor zur Dauphiné passierten, wo sich der Fluss in einer
Engstelle den Weg zwischen zerklüfteten Felsen bahnte. Dort erreichten sie am
10. Mai das malerische Städtchen Sisteron. Dreißig Jahre zuvor, am 5. März
1815, hatte Napoléon mit einer kleinen Schar Getreuer hier die Engstelle der
Durance erreicht. Wie in allen Orten, die er durchquert hatte, war auch hier die
Frage: Bekam er Unterstützung oder war man ihm feindlich gesonnen? Würde es
einen bewaffneten Kampf geben? Nein, man hatte die Kanonen von der Zitadelle
fortgeschafft, besorgte ihm und seinen Männern eine Mahlzeit und ließ sie
übernachten.
Auch die sieben Provencereisenden mieteten sich in Sisteron ein.
Malwida nutzte die Gelegenheit, sowohl das Panorama links als auch das rechts
der Durance mit dem Stift zu dokumentieren. Sie stand mitten auf der
Steinbrücke, die im großen Bogen die Flussufer verband, und malte die auf
bizarrem Felsen thronende Zitadelle, eingerahmt von einem der Stadttürme aus
dem 14. Jahrhundert und der Kathedrale Notre-Dame-Des-Pommiers. Den
zerklüfteten Giganten Rocher de la Baume jenseits der Brücke mit der
Häuserreihe zu seinen Füßen fing sie vom Ufer der Altstadt aus ein.
Die Fahrt im bergigen Gelände am darauffolgenden Pfingstsonntag
brachte im bergigen Gelände mit jedem Höhenmeter auf- und abwärts einen Wechsel
von Temperatur und Landschaft. Aus den Fenstern der Kutsche sah man blühende
Obstbäume auf geschützten Talwiesen und kurz darauf schneebedecktes Gestein und
Eisbrocken am Wegrand. Nach dem Städtchen Gap machten die Steigungen auf den
Serpentinen hinauf zum Col Bayard den Pferden so sehr zu schaffen, dass der
Kutscher immer wieder Pausen einlegen musste. Das bedeutete jedes Mal: Zeit für
Malwidas Skizzenbuch.
„Wenn du die Schneeberge fertig gemalt hast, möchte ich noch
einmal das Bild mit dem Riesenfelsen von Sisteron sehen, Tante Malwida“, bat
Wilhelm, der zuschaute, wie sie noch ein paar Details zu den Bildern der
letzten Tage ergänzte. „Wie hast du ihn noch Mal genannt?“
„Versteinerter Alptraum.“
„Und hier ist der vereiste Alptraum“, meinte der Junge. „Wann
fahren wir denn endlich weiter?“
„Wenn die Pferde abgekühlt sind. In der Zeit kannst du mal eine
Strecke laufen, du bist ja ganz zappelig. Oder Fangen spielen mit deinem
Bruder. Wo ist Alphons eigentlich?“
„Der musste mal. Und ich muss jetzt auch“, lachte Wilhelm und
rannte in das Gebüsch.
Auch Malwida stieg aus. Caroline blieb im Wagen sitzen. An die
niedrigen Temperaturen in der Bergregion war sie nicht gewöhnt und fürchtete
sich zu erkälten. Johanna und Paul waren damit beschäftigt, Reisedecken auf den
Sitzen zu verteilen und Herr Ludwig begleitete den Postillon, der die Pferde
auf eine Wiese führte.
Die Pause war lang genug, sodass Malwida das gewählte Motiv zu
Ende malen konnte. Sie hatte in den vergangenen Tagen Mühe gehabt, die nach
jeder Kurve wechselnden Bilder auf das Papier zu bringen. Manche waren nur kurz
skizziert, die würde sie später nachbearbeiten. Doch das vor ihr liegende
Gehöft vor endlos scheinender Bergkulisse, umgeben von blühenden Obstbäumen,
konnte sie fertig stellen, bevor zur Weiterfahrt angespannt wurde.
„Sagen Sie, Herr Ludwig. Sie haben sich so angeregt mit dem
Kutscher unterhalten. Gibt es neue Erkenntnisse über diese herrliche, jedoch
für uns so fremde Gegend?“, begann Caroline, als alle wieder ihre Plätze
eingenommen hatten.
„Ja, es gibt interessante Informationen, Madame von Meysenbug. Wenn
wir den vor uns liegenden Pass in einigermaßen gutem Tempo überwinden, schaffen
wir es heute bis Grenoble. Dort gibt es reichlich Möglichkeiten zum
Übernachten. Nördlich von Grenoble liegt das bekannte Kloster ‚Grande
Chartreuse’ im gleichnamigen Gebirgszug. Auf dem Rücken von Maultieren kann man
es erreichen.“
„Ach du lieber Gott“, rief Caroline. „Wenn die Berge in der
Chartreuse so gefährlich aussehen, wie die Serpentinen auf die eisige Passhöhe,
nein, nein.“
„Der Kutscher kennt einen Bergführer, der gebirgserfahrene und
ungewöhnlich kluge Maultiere im Stall stehen hat.“
„Dann wäre es doch machbar, liebe Schwägerin“, wandte Malwida ein.
„Das ist eine einmalige Gelegenheit, wenn man bedenkt, dass der heilige Bruno
aus Köln im Jahre 1084 zusammen mit sechs Gefährten die ersten kleinen Hütten
gebaut hat, auf einem einsam gelegenen Hochplateau, wie es heißt.“
Ergänzend las Herr Ludwig aus seinem Reisebuch vor: „In den Jahrhunderten ist in der Einöde der Chartreuse eine ansehnliche Anlage mit großen Gebäuden und sie umgebenden kleineren entstanden. Ein Besuch des Karthäuserklosters ‚La Grande Chartreuse’ ist in jedem Falle ein Erlebnis.“
Ergänzend las Herr Ludwig aus seinem Reisebuch vor: „In den Jahrhunderten ist in der Einöde der Chartreuse eine ansehnliche Anlage mit großen Gebäuden und sie umgebenden kleineren entstanden. Ein Besuch des Karthäuserklosters ‚La Grande Chartreuse’ ist in jedem Falle ein Erlebnis.“
„Ich will zum Kloster“, rief Wilhelm begeistert.
„Ich auch“, tönte Alphons.
Damit es nun schneller vorwärts ging, entschied man, den Anstieg
zum Col Bayard zu Fuß zu machen. Was für ein Kontrast zu den Erlebnissen der
vergangenen Monate war nun diese Wanderung im eisigen Wind. Malwida dachte
unwillkürlich an die poetischen Stunden mit bengalischen Rosen und dem Licht
der Öllampen.
Es kam ihr vor wie eine Botschaft des großen Weltgeistes? Nicht
den bequemen Weg der vergänglichen Freuden sollte sie gehen, sondern den
beschwerlichen, der zur Wahrheit führte.
Als Wilhelm und Alphons angesprungen kamen und ihr einen
Veilchenstrauß brachten, war das für sie wie eine Bestätigung. ‚Ja, ich werde
den unbequemen Weg gehen, weil der zur Wahrheit führ“, gelobte sie. An den
kleinsten Pflänzchen werde ich mich freuen, zumal wenn sie selbst bei Eis und
Schnee das Licht erreichen.’
Als sie die Passhöhe passiert hatten und wieder im Wagen saßen,
brachte Malwida mit ihrem Bleistift sofort den frischen Eindruck der
Steigungsstrecke auf das Papier. Zwei Bäume vor schneebedeckten Berggipfeln
trotzen dem eisigen Wind und warten auf den Frühling.
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