Mittwoch, 17. Oktober 2018

Route Napoleon


(Durancetal und Col Bayard - Mai 1845)

In der Frühe des 8. Mai 1845 stand der geräumige Reisewagen vor dem Arnauld’schen Hause, voll bepackt mit Kisten und Taschen. Für Malwida von Meysenbug, ihre Schwägerin Caroline mit den beiden Jungen Wilhelm und Alphons, deren Erzieher Herrn Ludwig und den guten Dienstgeistern Johanna und Paul gingen die Herbst- und Wintermonate in der Provence zu Ende. Das hieß, liebgewonnene Annehmlichkeiten verlassen,  das milde Klima, wunderbare Freundschaften, Wanderungen in pittoresker Landschaft, bei denen das Skizzenbuch Malwidas ständiger Begleiter war. Monsieur Hugo ließ es sich nicht nehmen, ihr durch seinen Kammerdiener einen Blumenstrauß mit auf den Weg zu geben, um ihr noch einmal zu sagen, dass sie doch hätte bleiben können. Ihr Herz war schwer, als sie den Place de Palmiers verließen und hinunterfuhren, dann auf der  Küstenstraße nach Westen in Richtung Toulon.
Caroline und sie hatten beschlossen, für die Rückfahrt nicht die Route über das Rhônetal zu nehmen, weil dieser Fluss auf Grund der Schneeschmelze sehr viel Wasser führte und eine Schiffspassage wie bei der Anreise nicht möglich sein würde. Stattdessen wählten sie die Strecke über die Dauphiné und Savoyen.  Das war ein Teil der Route, auf der NapoPaul nach der Flucht von der Insel Elba die Alpen überquert hatte, um in Paris die Herrschaft zu übernehmen.
Die Fahrt ging bis Aix-en-Provence mit Übernachtung im „Hôtel des Princes“ und am nächsten Tag  durch das Durancetal, wo Malwida zahlreiche Motive in ihrem Skizzenbuch festhielt, steile Ufer, dicht an Felsen gebaute Häuser sowie das Stadttor von Manosque, wo sie am zweiten Abend Station machten. Der dritte Reisetag brachte rechts der Strecke Blicke auf die Voralpen von Digne, deren Bergketten zum Teil noch schneebedeckt waren. 
All diese Eindrücke wurden übertroffen, als sie die Provence verließen und das Tor zur Dauphiné passierten, wo sich der Fluss in einer Engstelle den Weg zwischen zerklüfteten Felsen bahnte. Dort erreichten sie am 10. Mai das malerische Städtchen Sisteron. Dreißig Jahre zuvor, am 5. März 1815, hatte Napoléon mit einer kleinen Schar Getreuer hier die Engstelle der Durance erreicht. Wie in allen Orten, die er durchquert hatte, war auch hier die Frage: Bekam er Unterstützung oder war man ihm feindlich gesonnen? Würde es einen bewaffneten Kampf geben? Nein, man hatte die Kanonen von der Zitadelle fortgeschafft, besorgte ihm und seinen Männern eine Mahlzeit und ließ sie übernachten.
Auch die sieben Provencereisenden mieteten sich in Sisteron ein. Malwida nutzte die Gelegenheit, sowohl das Panorama links als auch das rechts der Durance mit dem Stift zu dokumentieren. Sie stand mitten auf der Steinbrücke, die im großen Bogen die Flussufer verband, und malte die auf bizarrem Felsen thronende Zitadelle, eingerahmt von einem der Stadttürme aus dem 14. Jahrhundert und der Kathedrale Notre-Dame-Des-Pommiers. Den zerklüfteten Giganten Rocher de la Baume jenseits der Brücke mit der Häuserreihe zu seinen Füßen fing sie vom Ufer der Altstadt aus ein.

Die Fahrt im bergigen Gelände am darauffolgenden Pfingstsonntag brachte im bergigen Gelände mit jedem Höhenmeter auf- und abwärts einen Wechsel von Temperatur und Landschaft. Aus den Fenstern der Kutsche sah man blühende Obstbäume auf geschützten Talwiesen und kurz darauf schneebedecktes Gestein und Eisbrocken am Wegrand. Nach dem Städtchen Gap machten die Steigungen auf den Serpentinen hinauf zum Col Bayard den Pferden so sehr zu schaffen, dass der Kutscher immer wieder Pausen einlegen musste. Das bedeutete jedes Mal: Zeit für Malwidas Skizzenbuch.
„Wenn du die Schneeberge fertig gemalt hast, möchte ich noch einmal das Bild mit dem Riesenfelsen von Sisteron sehen, Tante Malwida“, bat Wilhelm, der zuschaute, wie sie noch ein paar Details zu den Bildern der letzten Tage ergänzte. „Wie hast du ihn noch Mal genannt?“
„Versteinerter Alptraum.“
„Und hier ist der vereiste Alptraum“, meinte der Junge. „Wann fahren wir denn endlich weiter?“
„Wenn die Pferde abgekühlt sind. In der Zeit kannst du mal eine Strecke laufen, du bist ja ganz zappelig. Oder Fangen spielen mit deinem Bruder. Wo ist Alphons eigentlich?“
„Der musste mal. Und ich muss jetzt auch“, lachte Wilhelm und rannte in das Gebüsch.
Auch Malwida stieg aus. Caroline blieb im Wagen sitzen. An die niedrigen Temperaturen in der Bergregion war sie nicht gewöhnt und fürchtete sich zu erkälten. Johanna und Paul waren damit beschäftigt, Reisedecken auf den Sitzen zu verteilen und Herr Ludwig begleitete den Postillon, der die Pferde auf eine Wiese führte.
Die Pause war lang genug, sodass Malwida das gewählte Motiv zu Ende malen konnte. Sie hatte in den vergangenen Tagen Mühe gehabt, die nach jeder Kurve wechselnden Bilder auf das Papier zu bringen. Manche waren nur kurz skizziert, die würde sie später nachbearbeiten. Doch das vor ihr liegende Gehöft vor endlos scheinender Bergkulisse, umgeben von blühenden Obstbäumen, konnte sie fertig stellen, bevor zur Weiterfahrt angespannt wurde.
„Sagen Sie, Herr Ludwig. Sie haben sich so angeregt mit dem Kutscher unterhalten. Gibt es neue Erkenntnisse über diese herrliche, jedoch für uns so fremde Gegend?“, begann Caroline, als alle wieder ihre Plätze eingenommen hatten.
„Ja, es gibt interessante Informationen, Madame von Meysenbug. Wenn wir den vor uns liegenden Pass in einigermaßen gutem Tempo überwinden, schaffen wir es heute bis Grenoble. Dort gibt es reichlich Möglichkeiten zum Übernachten. Nördlich von Grenoble liegt das bekannte Kloster ‚Grande Chartreuse’ im gleichnamigen Gebirgszug. Auf dem Rücken von Maultieren kann man es erreichen.“
„Ach du lieber Gott“, rief Caroline. „Wenn die Berge in der Chartreuse so gefährlich aussehen, wie die Serpentinen auf die eisige Passhöhe, nein, nein.“
„Der Kutscher kennt einen Bergführer, der gebirgserfahrene und ungewöhnlich kluge Maultiere im Stall stehen hat.“
„Dann wäre es doch machbar, liebe Schwägerin“, wandte Malwida ein. „Das ist eine einmalige Gelegenheit, wenn man bedenkt, dass der heilige Bruno aus Köln im Jahre 1084 zusammen mit sechs Gefährten die ersten kleinen Hütten gebaut hat, auf einem einsam gelegenen Hochplateau, wie es heißt.“
Ergänzend las Herr Ludwig aus seinem Reisebuch vor:  „In den Jahrhunderten ist in der Einöde der Chartreuse eine ansehnliche Anlage mit großen Gebäuden und sie umgebenden kleineren entstanden. Ein Besuch des Karthäuserklosters  ‚La Grande Chartreuse’ ist in jedem Falle ein Erlebnis.“
„Ich will zum Kloster“, rief Wilhelm begeistert.
„Ich auch“, tönte Alphons.
Damit es nun schneller vorwärts ging, entschied man, den Anstieg zum Col Bayard zu Fuß zu machen. Was für ein Kontrast zu den Erlebnissen der vergangenen Monate war nun diese Wanderung im eisigen Wind. Malwida dachte unwillkürlich an die poetischen Stunden mit bengalischen Rosen und dem Licht der Öllampen.
Es kam ihr vor wie eine Botschaft des großen Weltgeistes? Nicht den bequemen Weg der vergänglichen Freuden sollte sie gehen, sondern den beschwerlichen, der zur Wahrheit führte.
Als Wilhelm und Alphons angesprungen kamen und ihr einen Veilchenstrauß brachten, war das für sie wie eine Bestätigung. ‚Ja, ich werde den unbequemen Weg gehen, weil der zur Wahrheit führ“, gelobte sie. An den kleinsten Pflänzchen werde ich mich freuen, zumal wenn sie selbst bei Eis und Schnee das Licht erreichen.’
Als sie die Passhöhe passiert hatten und wieder im Wagen saßen, brachte Malwida mit ihrem Bleistift sofort den frischen Eindruck der Steigungsstrecke auf das Papier. Zwei Bäume vor schneebedeckten Berggipfeln trotzen dem eisigen Wind und warten auf den Frühling.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen