Der Freudentaumel, mit dem das Jahr
1848 begonnen hatte, war zum Ende hin von den Realitäten eingeholt worden. In
Wien und Berlin saßen die Herrschenden wieder fest auf ihren Thronen und versuchten
die progressiven Entwicklungen zu stoppen. Trotzdem gelang es den Delegierten
in der Paulskirche, das vom Volk gewünschte Gesetzeswerk fertig zu stellen. Am
28. März 1849 wurde die Reichsverfassung für das deutsche Volk verkündet.
Inzwischen hatte sich Wien aus den deutschen Einheitsbestrebungen ausgeklinkt
und die Regierenden von Preußen, Sachsen und Hannover dachten gar nicht daran, die
vom Volk gewünschte Verfassung für ein einheitliches Deutschland anzuerkennen.
Als der preußische König Friedrich Wilhelm IV., genannt von
Gottes Gnaden, am 3. April 1949 die Kaiserkrone aus den Händen von gewählten
Vertretern des Volkes ablehnte, ging eine Welle des Entsetzens durch alle
deutschen Länder. Wieder trafen sich die Menschen auf den Straßen, um friedlich
für ein freies einheitliches Deutschland zu demonstrieren. Die Reaktion hatte
sich jedoch längst wieder formiert, vor allem militärisch, und kannte kein
Pardon. Die Aufstände in Dresden, Westfalen und Baden wurden blutig
niedergeschlagen und Revolutionäre inhaftiert oder hingerichtet, wenn sie nicht
vorher schon das Exil in England oder Amerika gesucht hatten.
Im Zusammenhang mit diesen Kämpfen um die Reichsverfassung musste
auch Theodor Althaus die bittere Konsequenz erfahren. In einem Leitartikel
seiner „Zeitung für Norddeutschland“ hatte er dazu aufgerufen, einen
Landesausschuss zur Durchführung der Reichsverfassung zu gründen. Obwohl diesem
Aufruf niemand nachkam, wurde er am 14.
Mai 1849 verhaftet und als Staatsverräter in das Gefängnis vor dem Clevertor in
Hannover eingewiesen.
Malwida war sehr betroffen, fühlte sich jedoch hilflos. Wie
schön wäre es, wenn die Verbindung zu ihrem Freund so vertrauensvoll wäre, dass
sie etwas für ihn tun könnte. Doch außer bei Elisabeth Althaus nachzufragen,
sah sie keine Möglichkeit. Seine Briefe nach Hause klangen optimistisch, doch
das Urteil war noch nicht gesprochen.
Zu all den Sorgen und Enttäuschungen durch die politischen
Entwicklungen kam die tägliche Konfrontation mit dem Unverständnis der
Familienangehörigen. Mit zunehmend stärker werdender Reaktion waren Malwidas demokratische
Überzeugungen für die von Meysenbugs untragbar. Die Konflikte im Palais in der
Hornschen Straße spitzten sich weiter zu. Unter der eisigen Kälte im Umgang
miteinander litt Malwida nicht nur psychisch. Monatelang hatte sie diffuse
körperliche Beschwerden, die der Arzt mit verschiedenen Behandlungen ohne
Erfolg therapierte. Als er schließlich keinen Rat mehr wusste, entschied sie
sich für eine Kur im belgischen Nordseebad Ostende, die sie zusammen mit
Elisabeth Althaus und Anna Koppe machte.
In der Eisenbahn nach Köln erinnerte sie sich an ihre Fahrt auf derselben
Strecke ein Jahr zuvor in umgekehrter Richtung auf dem Weg von Frankfurt nach
Detmold. Wo waren die schwarzrotgoldenen Fahnen in den Orten und all die fröhlichen Menschen auf den Bahnhöfen?
Wo waren die wunderbaren Revolutionäre? Vorbei der deutsche Frühling. Doch
Malwida wollte sich nicht damit abfinden. Auch wenn die Krankheitswochen sie
geschwächt hatten, glaubte sie, etwas bewegen zu können. Schließlich wollte sie
doch verwirklichen, was sie sich vor einigen Wochen an der Wiege des jüngsten
Sprosses der von Meysenbugs, dem unschuldig schlummernden Baby ihres Bruders,
geschworen hatte. Sie würde nicht aufgeben, sondern alles tun, damit Menschen
wie dieses kleine Wesen im rechten Sinne von Frauen erzogen würden, um eine
Generation freier Menschen heranzubilden. Unter dem Titel „Der Schwur einer
Frau“ hatte sie zu diesem Gelöbnis an der Babywiege einen Artikel geschrieben
und an Carl Volkhausen geschickt. Der war so angetan, dass er riet, ihn einem
Magazin zur Publikation anzubieten.
Nach Übernachtungen in Köln, Brüssel und Antwerpen lernte
Malwida auf der letzten Etappe der Eisenbahnfahrt nach Ostende eine zierliche
junge Frau kennen, die nicht erkannt werden wollte, deren Vertrauen sie jedoch
im flüsternden Gespräch gewann. Es war Therese Pulzsky, die Frau des
ungarischen Freiheitskämpfers Franz Pulzsky. Mit falschem Pass und unter dem
Schutz eines ihr bis dahin unbekannten älteren Ehepaares war sie durch
Deutschland und Belgien auf dem Weg zu ihrem Mann nach London. Dahin war der nach
dem Scheitern des Wiener Aufstandes im Oktober 1848 geflüchtet. Ihre kleinen
Kinder hatte sie in Ungarn bei einem Freund zurückgelassen.
In Ostende mieteten sich Malwida, Elisabeth und Anna in
einem Gasthof ein, ebenfalls die beiden älteren Begleiter, die es sich nicht nehmen
ließen, ihren Schützling bis zum Schiff zu
begleiten. Abends standen alle dann zusammen am Pier und verabschiedeten Therese
Pulzsky mit den besten Wünschen zur Überfahrt nach England.
Hatte Malwida schon seit Beginn der Reise das Gefühl, sie
könnte freier atmen, war ihr beim Anblick des auslaufenden Schiffes und der unermüdlichen
Brandung, als würden die Wellen alle traurigen Gedanken ins Meer spülen. Von
Krankheit konnte keine Rede mehr sein. Die drei Frauen nahmen sich einen
Umkleidewagen, gingen im Meer baden, lernten am Strand und im Pavillon
freundliche Menschen kennen und machten Ausflüge.
So fuhren sie eines Tages mit einem kleinen Boot zum
Leuchtturm, wo sie von der Frau des Turmwärters liebevoll empfangen wurden.
Malwida war zutiefst beeindruckt von der schlichten Natürlichkeit, mit der diese
Frau selbstbestimmt ihren Weg gegangen war und ging. Obwohl ihre Eltern wohlhabend
waren und sie zur Schule schicken wollten, hatte sie sich für ihren Traum entschieden
und war Fischerin geworden. Bei dieser schweren Arbeit hatte sie ihren Mann
kennen gelernt und hatte nun mit ihm und zwei Kindern ein rundum glückliches
Leben. Malwida konnte gar nicht genug bekommen von dieser kleinen Welt zwischen
Himmel und Wasser. Gebannt lauschte sie den Erzählungen dieser Frau, die es
fertig brachte, so konsequent ihren eigenen Weg zu gehen. Diese einfache Natur
würde ganz selbstverständlich ihre Kinder zu freien Menschen erziehen.
Auch eine andere Seite war im Kurbad Ostende vertreten, die
der Gespräche über gesellschaftliche und religiöse Fragen. Ein belgischer Jesuit
suchte häufig die Nähe der drei Damen. Er wollte sie zum rechten Glauben
bekehren. Doch bei Malwida, die sich mit ihm fließend in französischer Sprache
austauschte, stieß er auf Granit. Beredt stellte sie ihre in den vergangenen
Wochen und Monaten gewonnenen Erkenntnisse dar. Es war ihr eine innere Freude
zu erleben, mit welcher Sicherheit sie ihm gegenüber ihre Überzeugungen vertrat.
Keine der praktizierten Religionen kam für sie in Frage, sondern nur eine
Gemeinschaft in Freiheit und Liebe wie Theodor sie in seiner Schrift „Die
Zukunft des Christenthums“ formuliert und auf der Grotenburg gepredigt hatte.
Auch in Diskussionen
über die Stellung der Frau konnte sie die neu gewonnene Sicherheit erproben,
indem sie ihre im „Schwur einer Frau“ dargestellten Prinzipien gegenüber ihren
männlichen Gesprächspartnern darstellte. Von deren Gegenargumenten ließ sie
sich nicht irritieren. Die Erfahrung, nicht nur eine eigene Meinung zu haben,
sondern selbstbewusst zu vertreten, bestärkte sie im Vorhaben, alle ihre Kräfte
einzusetzen, um Freiheit, Gerechtigkeit
und Gleichheit der Chancen für die Frauen zu erreichen.
Nach der Rückkehr aus der Kur war Malwida klar, dass sie
einen deutlichen Schritt tun musste, um aus dem Meysenbug’schen Dilemma herauszukommen.
Sie dachte an Theodor, der ihr vor seiner Abreise nach Leipzig geschrieben
hatte, er könne in Detmold zu nichts mehr kommen. Genau an dem Punkt war sie.
In der kleinen Residenz konnte sie nichts mehr bewegen. Sie würde die Familie verlassen
und da für sie der Weg in die Ehe nicht in Frage kam, würde sie nach Amerika
auswandern. Auch wenn sie noch nicht genau wusste, wie sie den Plan umsetzen
würde, ging es ihr schon allein mit dem Gedanken an die Erlösung besser.
Außer Elisabeth und einigen demokratisch gesinnten Freunden
wie Carl Volkhausen erzählte sie allerdings niemandem davon. Zunächst einmal
versuchte sie sich als Schriftstellerin. Nach dem Artikel „Schwur einer Frau“
verfasste sie eine längere Schrift mit dem Titel „Eine Reise nach Ostende“,
eine Art Tagebuch mit ihren Gedanken zu politischen und religiösen Fragen, sowie
die zur Emanzipation der Frau. Das Manuskript schickte sie mit der Bitte um
Publikation an entsprechende Magazine und Verlage.
Auch in anderer Weise versuchte sie über den Tellerrand der
lippischen Residenz hinaus zu blicken. Schon seit längerer Zeit liebäugelte sie
mit der Möglichkeit, Kontakt zu Johanna Kinkel aufzunehmen, deren Schicksal
zurzeit in Deutschland allerorten bekannt war und in der sie das Ideal einer selbstbestimmten
Frau verkörpert sah. Von Theodors Erzählungen aus dem Studium in Bonn kannte
sie Johannas Mann Gottfried Kinkel, der als junger Dozent zu Beginn der
vierziger Jahre freiheitsliebende Studenten um sich versammelte. Wie Theodor,
hatte Kinkel im Mai 1849 um die Durchführung der Reichsverfassung gekämpft,
zunächst beim Sturm auf das Siegburger Zeughaus und dann zusammen mit seinem
Schüler Carl Schurz beim badischen Aufstand. Im Kampf an der Murg wurde er am
Kopf verwundet, von preußischen Truppen festgenommen und zum Tode verurteilt:
Er wurde jedoch zunächst begnadigt und befand sich im Zuchthaus Naugard im
äußersten Osten des Königreichs Preußen. Angesichts dieser Situation brauchte
Frau Kinkel, die mit den vier Kindern in Bonn zurück geblieben war, jeden
Zuspruch und auch finanzielle Unterstützung. Überall in Deutschland nahm man
Anteil am Schicksal dieses entschlossenen und mutigen Mannes und dem seiner
Familie in Bonn. Auch Malwida war aktiv geworden. Sie hatte einen Aufruf zur
Hilfe für Kinkel und seine Familie in der „Zeitung für Norddeutschland“
veröffentlicht und wollte nun auch direkt Kontakt zu Johanna Kinkel aufnehmen.
Datiert vom 16. Oktober 1849 schrieb sie ihr einen langen Brief, in dem sie sich vorstellte
als demokratisch gesinnte Tochter im aristokratischen Elternhaus und die daraus
resultierenden Konflikte darstellte, andererseits Liebe und Anteilnahme ihr und
ihrer Familie gegenüber versicherte mit der Hoffnung, ihr Mann möge bald aus
dem Gefängnis entlassen werden. Johanna Kinkel war erfreut über den neuen Kontakt,
leitete Malwidas Brief an ihren Mann nach Naugard weiter und antwortete
unverzüglich. Am 19. Dezember 1849 schickte Malwida einen weiteren langen Brief
zu Johanna Kinkel nach Bonn, in dem sie die neue Freundin über ihren bisherigen
Lebensweg und ihre Ziele informierte. Sie stellte kurz ihre Brüder Friedrich, Otto, Carl, Emil, Richard und Wilhelm
vor, die in Staatsdiensten in verschiedenen deutschen Ländern tätig waren, schrieb
von ihren älteren Schwestern Louise und Julie, die nach der Geburt eines Kindes
gestorben war, dass sie mit den Eltern und der jüngeren Schwester Laura nach
dem Kasseler Aufstand 1830 ein Nomadenleben ohne Schulausbildung geführt hatte
und dann mit Mutter und Schwester nach Detmold gezogen war. Auch ihre
zerbrochene Beziehung zu Theodor Althaus erwähnte sie und dass sie aufgrund
ihrer freiheitlichen Gesinnung nur noch wenige Freunde in der lippischen
Residenz hatte, so die Familie Althaus und Carl Volkhausen. Doch der müsse
Detmold verlassen, weil er dort keine Anstellung finde. Sie sei fest
entschlossen, das auch bald zu tun und ihrem Leben eine positive Richtung zu
geben, wie sie, Johanna Kinkel, es ja bereits geschafft hatte. In Anbetracht
des bevorstehenden Weihnachtsfestes schickte sie für die Kinder Spielzeug und
Süßigkeiten mit.
Aus: Malwida und der Demokrat
Aus: Malwida und der Demokrat
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