Mittwoch, 17. Oktober 2018

Malwida und die Märzgefallenen


(Malwida von Meysenbug in Berlin - Mai 1852)

Der Kastanienbaum vor ihrem Fenster in der Berliner Kochstraße hatte rosaroten Frühlingsschmuck angelegt. Zwei Blütenkerzen grüßten durch das geöffnete Fenster zu ihr hinein in das stille Zimmer. Sie streckte ihnen die Hände entgegen, als müsste sie sie herein holen und schützen, damit der Wind ihnen keinen Schaden zufügte. Doch nein, in Freiheit würden sie weiter wachsen, sich gegenseitig stützend den Stürmen trotzen und Früchte tragen. Doch was wäre, wenn es niemals dazu käme? Wenn irgendwann der Sturm so stark würde, dass eine der beiden ihm nicht mehr trotzen könnte und am Ende sogar abbräche? Was wäre mit der Übriggebliebenen? Würde sie die Einsamkeit überwinden, weiter wachsen und Früchte hervorbringen? Würde sie ohne den anderen jemals wieder aufrecht stehen?
Sie setzte sich an den Schreibtisch, vor sich das veilchenblaue Briefpapier, auf dem sie Johanna Kinkels Brief aus London beantworten wollte. Dort wohnte die Freundin inzwischen mit den vier Kindern bei ihrem Mann, der in einer Novembernacht von Carl Schurz aus dem Spandauer Gefängnis befreit worden und mit seiner Hilfe über Ost- und Nordsee nach England geflüchtet war. Was sollte sie Johannal schreiben? Konnte sie denn dieser Frau gegenüber von Enttäuschung, Kraftlosigkeit und Unwohlsein jammern? Niemals würde Johanna verstehen, dass sie nach Theodors Tod und dem Niedergang der Hochschule noch immer keinen Schritt nach vorne gegangen war. Was hält dich noch dort, wo die Freiheit mit Füßen getreten wird, würde sie sagen. Gehe fort, du hast nichts zu verlieren.
Ach, wenn es doch so einfach wäre!
Ein Klopfen an der Tür.
„Malwida?“
„Komm nur herein, Anna.“
„Dein Bruder will dich sprechen.“
„Emil? Was will er denn?“
„Wilhelm von Meysenbug, badischer Gesandter beim königlichen Hofe. So hat er sich vorgestellt.“ Anna schaute sie prüfend an. „Wusstest du, dass er in Berlin ist?“
„Ich hätte damit rechnen müssen, dass er kommt“, sagte Malwida leise.
„Das hat hoffentlich nichts Schlimmes zu bedeuten. Ist es der, von dem du mir erzählt hast?“
„William, mein jüngster Bruder.“
„Er wartet im Salon.“
„Danke, Anna.“
„Lass dich nicht unterkriegen, meine Liebe.“ Sie umarmte die Freundin und wandte sich zum Gehen. „Du findest mich in meinem Zimmer, wenn du mich brauchst. Soll Johann Tee und Gebäck bringen?“
„Kann eigentlich nicht schaden“, antwortete Malwida nach kurzem Nachdenken. Als die Freundin gegangen war, trat sie vor den Spiegel, prüfte den Sitz ihres Kleides und zupfte sorgfältig die Frisur zurecht und ging hinüber in den Salon.
William stand am Fenster und schaute hinaus auf die Straße. Als er Malwida bemerkte, drehte er sich um und kam ihr mit ausgestreckten Armen entgegen.
„Wie schön, dich wieder zu sehen, kleine Schwester“, begrüßte er sie lachend.
„Die Freude ist ganz meinerseits, lieber Bruder. Setzen wir uns.“ Sie löste ihre Hände aus den seinen und deutete auf die Sitzecke am Fenster.
Als sie sich niedergelassen hatten, er im Sessel, sie im Sofa gegenüber, musste sie ihren Bruder immerzu anschauen. Hatte sie ihn doch seit einigen Jahren nicht mehr gesehen. Wie ähnlich er dem Vater geworden war. Ein stattlicher Mann. Mit unerschütterlichen Grundsätzen. Daran hatte sich wahrscheinlich nichts geändert.  Da war immer noch diese Entschlossenheit in seinem Blick. Schon als kleiner Junge hatte er etwas Höheres angestrebt.
„Malwida“, begann er zögernd. „Ich muss mit dir reden.“
„Dazu bist du ja wohl hier.“
„Nicht nur als Bruder bin ich gekommen.“
Ahnte sie es doch. Sie dachte an die heftige Auseinandersetzung nach dem Tod des Vaters. Ihr war aber nicht nach Streit. Auf keinen Fall würde sie sich von ihm einschüchtern lassen. Er musste einsehen, dass sie nicht nur älter, sondern auch selbstsicherer geworden war.
„Fahre nur fort“, ermunterte sie.
„Das Thema wird dir nicht gefallen.“
„Nur zu.“
„Nachdem dein Versuch, dich auf eigene Beine zu stellen,  nicht gelungen ist, sehe ich die Notwendigkeit,  über deine Zukunft nachzudenken“, begann er.
„Das kann doch wohl das Thema nicht sein“, sagte Malwida in ruhigem Ton.
„Seinerzeit haben wir dir erlaubt, nach Hamburg zu gehen. Aber diese Schule ist ja nun aufgelöst. Wegen politischer Umtriebe übrigens.“
Malwida spürte eine Welle von Zorn in sich hochsteigen.
„Lass uns das Gespräch beenden, William. Ich sehe, es hat keinen Sinn.“
Inzwischen hatte der Koppesche Diener den Tee gebracht. Wilhelm rührte ausgiebig in seiner Tasse herum.
„So einfach kannst du es dir nicht machen. Als Teil einer Familie, deren Männer, von Gott bestimmt, am Aufbau unserer Lebensgrundlagen mitgewirkt haben und es weiterhin mit großem Erfolg tun, hast du eine Verantwortung. Dieser Verantwortung kannst du dich nicht entziehen.“
„Wofür ich verantwortlich bin, sagen mir meine Überzeugungen“, antwortete Malwida ein wenig schnippisch.
„Genau das ist der Punkt. Du siehst das völlig falsch. Überzeugungen zu haben ist nicht Sache von Frauen, schon gar nicht in Bereichen, die den Männern vorbehalten sind. Hat man dich nicht schon als kleines Mädchen weibliche Demut gelehrt? Und so dumm bist du doch nicht, um zu begreifen.“
„Das hat doch keinen Sinn, William, schweige lieber.“
„Nein, nein“, beharrte er. „Wenn du dich zur Gefährtin derer machst, die nichts anderes im Sinn haben, als unsere Welt aus den Angeln zu heben, also das Chaos zu schaffen, sehe ich es als meine Pflicht, dich zu deiner wahren Bestimmung zurückzuführen.“
„Es reicht jetzt! Schluss damit!“ Sie schaute ihn böse an.
„Mir liegt es völlig fern, dich zu bevormunden, Malwida. Doch darf ich dir nicht verschweigen, dass unsere Mutter mir in einem Brief von dem Kummer berichtet hat, den du ihr seit Jahren bereitest.“
„Lass unsere Mutter aus dem Spiel. Ich liebe sie von ganzem Herzen und habe ihr bereits vieles geopfert. Sehr vieles. Nur eins kann und will ich nicht opfern, meine Überzeugungen. Sie gehören mir, nur mir allein.“ Unwillkürlich füllten sich ihre Augen mit Tränen.
„Papperlapapp. Kurz und gut. Was tust du hier in Berlin? Du gehörst, wie jede Frau, in die Familie. Dein Platz ist an der Seite unserer armen Mutter in Detmold und nirgendwo anders. Auch dir ist es doch wohl nicht entgangen, dass du gescheitert bist. Kläglich gescheitert. Und wer hat dir diese bösen Gedanken eingeflößt? Wem hast du dieses ganze Elend zu verdanken? Deinem teuflischen Verführer. Wärest du ihm doch niemals begegnet.“
„Theodor?“ Nach diesem Stich in das Innerste ihres Herzens bekam ihre Stimme einen schrillen Ton. „So sprichst du nicht von Theodor. Das verbiete ich dir.“
Von Weinkrämpfen geschüttelt sank sie in sich zusammen.
„Beruhige dich doch“, sagte Wilhelm, indem er aufsprang, um zu ihr zu gelangen.
„Fass mich nicht an“, schrie sie. „Lass mich allein.“
Mit sorgenvoller Miene schaute er auf sie herab.
„Du bist krank, Malwida. Das erklärt deine Irrwege. Kein Wunder, dass du so neben dir stehst. Ich helfe dir aus deiner Misere heraus. Du erreichst mich im Ministerium.“
„Niemals werde ich nach dir rufen“, schluchzte sie. „Ich finde meinen Weg auch ohne euch.“
Bevor er den Salon verließ, drehte er sich noch einmal um.
„Dein Starrsinn wird dich noch vollends in den  Ruin treiben. Überlege dir gut, was du tust, bevor es zu spät ist.“

***

Auf dem Hügel vor den Toren der Stadt hörte Malwida die Geräusche der Pferdedroschken und der triumphierenden Soldaten nur ganz schwach. So ein bisschen klang es  sogar wie leises Meeresrauschen. Ganz entfernt hörte sie eine Nachtigall und über ihrem Kopf flüsterten die Blätter, als wollten sie die Stille der hier Ruhenden nicht stören. Sie setzte sich neben eines der Gräber, bewachsen mit frischgrünem Efeu und atmete tief ein. Weit entfernt erstreckte sich die preußische Hauptstadt in der weiten Ebene, über der die Sonne langsam unterging.
Hier fern jeglichen Lärms war sie allein mit den Toten. So schön ruhig hier. Nur langsam ordnete sich das Chaos in ihrer Brust. Die unachtsam hin geschleuderten Pfeile trieben immer wieder Tränen in die Augen, die sie wie einen wohltuenden Schleier empfand. Auf keinen Fall konnte sie zurück in den Schoß der Familie. Wie stellte William sich das denn vor? Weibliche Demut? Das ging nicht. Nicht mehr. Auch nicht der Mutter zuliebe. Sie ließ sich nicht mehr verbieten, ihren Verstand zu gebrauchen. Sie hatte ihre eigenen Vorstellungen. Und sie hatte ja bereits ihren Weg gefunden, heraus aus der Enge. Aber das würde William niemals verstehen, obwohl er sie doch lange genug kannte. Er dachte ja nur an sich und seine Position im Ministerium. Die demokratische Schwester war ihm peinlich. Was hatte er gesagt? Teuflischer Verführer? Irrwege? Gescheitert? Sie spürte ihr Herz klopfen. Nein! nein! Nein! Aus sich selbst heraus hatte sie ihre Überzeugungen. Nicht sie, sondern William war auf Irrwegen. Er würde scheitern, nicht sie. Wenn du etwas brauchst, Malwida. Heuchler. Diese Hilfe brauchte sie schon lange nicht mehr. Warum wollten sie das denn nicht begreifen? Sie fühlte sich zwar schwach, doch das würde vorübergehen. Niemals würde sie ihre Ideale verraten, ihre Ideen von einem freien Land mit freien selbstbestimmten Frauen mit denselben Rechten wie Männer sie haben. Selbst, wenn sie gegen Geflogenheiten und geschriebene und ungeschriebene Gesetze handelte. Sie musste auf ihre innere Stimme hören. Wie Antigone. Ja, sie konnte nicht anders handeln, auch nicht der Familie zuliebe.
Wie Antigone.
. War ihr jemand gefolgt? Plötzlich kam es ihr vor, als wäre sie nicht allein. Zwei junge Menschen blickten aus einiger Entfernung zu ihr hinüber. Wie lange standen sie wohl schon da? Als sie sich entdeckt sahen, kamen sie ein paar Schritte auf sie zu. Sie stand auf und ging ihnen entgegen, die beiden kamen auch näher.
„Verzeihen Sie, wenn wir Ihre Ruhe gestört haben“, sagte der Mann. „Wir haben Sie lange angesehen, wie Sie da so traurig und gedankenvoll saßen. Sie müssen eine von uns sein.“
Die junge Frau nickte zu seinen Worten.
„Wenn die Arbeit uns mal ein Stündchen Zeit lässt, kommen wir hierher zu den Gräbern unserer toten Freunde.“
„Kannten Sie viele der jungen Menschen, die hier begraben sind?“, fragte Malwida.
„Einige aus dem Handwerkerverein und aus der Fabrik. Dort haben sie gearbeitet wie wir. Carl war erst achtzehn. Und am achtzehnten März ist er gestorben.“
„So viele sind gestorben. Auch ich war einige Male hier“, sagte Malwida.  „In Anwesenheit der Toten finde ich Trost.“
„Sie haben auch jemanden zu betrauern. Das sehe ich Ihnen doch an“, sagte die junge Frau.
„Er war nicht einmal dreißig. Sein einsames Grab ist auch auf einem Hügel vor der Stadt, doch nicht hier, sondern in Gotha. Efeu mochte er so gern, hellgrün, wie das hier auf den Gräbern der jungen Kämpfer.“
„Gestorben im Kampf für die Freiheit des Volkes. Sehen Sie, dort steht es eingemeißelt.“ Der Mann zeigte auf das einfache Denkmal.
„Das Wertvollste haben sie gegeben …“
„… und doch selbst nach vier Jahren noch nicht den verdienten Lohn errungen“, bedauerte Malwida. „Deshalb müssen wir weiterkämpfen, gegen das Joch der Einschränkung und Bevormundung. Gleiche Rechte für alle Menschen. Mitbestimmung brauchen wir, eine freie Presse. Freiheit und Selbstbestimmung auch für uns Frauen.“
„Und den Handwerkerverein“, sagte der junge Mann. „Seitdem der verboten ist, werden wir förmlich in die Schenke getrieben, anstatt in ordentlichen Versammlungen unsere wirklichen Interessen zu wahren und in Freiheit unsere Zukunft zu schmieden.“
Mit dem Versprechen, alles ihnen Mögliche zu tun, damit das Blut der Gefallenen vom 18. März 1848 nicht umsonst geflossen war, verabschiedeten sie sich mit einem festen Händedruck. Das junge Paar ging eng umschlungen seinen Weg und Malwida kehrte getröstet und in ihren Grundsätzen gefestigt zurück in das hektische Treiben der Straßen von Berlin.


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