Mittwoch, 17. Oktober 2018

Werft sie in den Turm!


(In einer kleinen Stadt in der Nähe von Frankfurt am Main - 1597)

Nach einem Winter mit Schnee und Frost bis in den Mai wehte endlich milde Frühlingsluft durch die offene Tür herein. Die Familie saß um den Holztisch herum, in der Mitte eine Schüssel Getreidebrei. Lautes Geplapper und helles Kinderlachen. Jeder schob mit dem Löffel seinen Anteil zu sich heran, der Vater den größten. Die Kleinen beeilten sich, damit sie auch genug bekamen. Peter saß auf Margreths Schoß. Er lutschte an einem Stück Brot und bekam von der Mutter ab und zu einen Löffel in den Mund geschoben. Gänse liefen herum, versuchten herunterfallende Brocken zu erhaschen.
Plötzlich sprang Margreth auf und setzte das Kind ihrer Ältesten auf den Schoß. Der Kleine begann jämmerlich zu weinen und streckte die Ärmchen nach ihr aus.
„Was ist los mit dir, Frau?“, fragte Bauer Feldmann.
„Schau doch da.“
Zwei Männer kamen durch das Feld auf das Haus zu. Margreth rannte zur Leiter, stieg hinauf und versteckte sich im Heu. Dazu hatte sie allen Grund, wurde sie doch von den Leuten im Dorf argwöhnisch beobachtet, seitdem Anna Faust in der peinlichen Befragung ausgesagt hatte, sie sei zusammen mit ihr beim Hexentanz gewesen.
Bauer ging zur Tür und wurde sofort heftig zur Seite geschubst.  Der Dorfbüttel war das. Der hastete an ihm vorbei und kletterte auf den Heuboden, wusste er doch, wo er zu suchen hatte.
„Wir haben Anweisung, deine Frau zum Schloss zu bringen“, sagte der Wirt, der nun auch hereingekommen war. „Das Hofgericht erwartet sie.“
„Aber …“
„Kein Aber, Mann. Sie ist der Zauberei verdächtig. Anweisung ist Anweisung.“
Peter schrie laut auf, als die Mutter nach draußen gestoßen wurde. Die hörte ihn noch lange weinen, als sie sich vom Haus entfernte. Auch ihr liefen die Tränen über das Gesicht. Zwischen den zwei Bewachern torkelte sie den weiten Weg über die Felder, durch das Stadttor und dann direkt zum Schloss.

Der Büttel schob sie in einen großen dunklen Raum mit braunen Butzenscheiben. Beim Hofmeister erstattete er Bericht. Der saß inmitten der vier Männer des Hofgerichts am Tisch auf einem Podest. Mit starren Mienen blickten sie herab auf die zitternde Frau.
„Margreth, Hans Feldmanns Frau, geboren vor dreiunddreißig Jahren. Warum hast du dich auf dem Heuboden versteckt, als der Dorfbüttel und der Wirt dich holen wollten?“,  begann der Hofmeister das Verhör.
„Wollte Futter für das Vieh holen.“
„Red keinen Unsinn. Was ist mit den Kühen des Schultheißen, von denen jedes Mal eine verendet ist, wenn du ihm zwischen das Vieh gelaufen bist?“
„Weiß nicht.“
„Und mit dem Pferd vom Brückenschmied, das rasend geworden und über die Stalltür gesprungen ist, weil du es verzaubert hast?“
„Kann nicht zaubern.“
„Dann willst du wohl auch abstreiten, dass du deiner Tochter Magdalene das Zaubern beigebracht hast?“
„Sag doch, ich kann nicht zaubern.“
„Warum hast du dann im Feld zu ihr gesagt, wenn du gewusst hättest, wie man mit den Zauberischen umgeht, würde sie das Zaubern nie von dir gelernt haben?“
„Hab ich nicht.“
„Der Sauhirt hat’s gehört.“
„Der Sauhirt ist ein Lügner“, sagte Margret.
„Überleg dir gut, was du sagst. Wie erklärst du dir, dass die Anna Faust behauptet, ihr wärt zusammen beim Hexentanz gewesen?“
„War nie beim Hexentanz.“
„Beantworte meine Frage.“
„Hat einen Zorn auf mich gehabt.“
„Und warum hat diese Hexe bis zu ihrem Tod auf dem Scheiterhaufen behauptet, du seiest dabei gewesen beim Tanz mit dem Satan?“
„Weiß nicht warum.“
„Dir soll schon noch was einfallen“, schimpfte der Mann und winkte den Büttel herbei. „Werft sie in den Turm.“

*

Im Pfarrhaus hatte die Winterkälte die Mauern noch nicht ganz verlassen. Dorothea hatte die Dienstmagd angewiesen, den Kachelofen anzuheizen. Er verbreitete eine wohlige Wärme in Stube und Arbeitszimmer. Johannes wollte seine Predigt für den nächsten Sonntag vorbereiten. Er saß an seinem Schreibtisch aus dunklem Holz und schaute hinaus auf den Marktplatz. Rechts die Kirche, gegenüber das Schloss.
Zwei Jahre war es jetzt schon her, seit der Graf ihn in die Stadt geholt hatte, um den Menschen die reformierte Lehre zu predigen. Jedoch hatte er sich die Arbeit als Pfarrer an diesem Ort nicht so schwierig vorgestellt. Was sollte er den Menschen predigen, da sie gerade mit Mühe und Not den langen Winter überstanden hatten? Nach einem kalten verregneten Sommer mit nachfolgenden Missernten hatten sie nicht genug zu essen und große Mühe, Futter für die Tiere aufzutreiben. So machte ihnen auch das Viehsterben zu schaffen. Und auf die neue Ernte mussten sie nun erst einmal lange warten. Wo war der barmherzige Gott, fragten sie sich. Konnte er das den Menschen verdenken? Sie litten bitterste Not.
An diesem Tage fiel es Pfarrer Johannes besonders schwer, seine Gedanken für die Predigt zu ordnen. Seitdem sie Margreth Feldmann wegen Hexerei in den Turm gebracht hatten, schlief er kaum eine Nacht. Sie schreckten doch vor nichts zurück. Bilder aus seiner Kindheit ließen ihn nicht los. Dichtes Gedränge auf dem Marktplatz. Eine junge Frau mit zerzausten Haaren, festgebunden auf einem Karren. Das Gegröle der Leute. ‚Hexe mit ihrer Teufelsbrut’ und ‚Brennen muss sie’. Als der Karren ganz nah an ihm vorbei holperte, sah er, dass sie schwanger war. Mit unermesslicher Trauer im Gesicht blickte die Frau ihn an.
Nun war er ein erwachsener Mann und noch immer waren diese schrecklichen Geschehnisse weit verbreitet. Gerade vor einigen Tagen hatte man Anna Faust mit großem Spektakel auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Wie kam es nur, dass die Menschen einander derartige Grausamkeiten zufügten? Nirgendwo in der Bibel stand, dass sie das tun sollten. Und in diesem Buch kannte er sich bestens aus. Es lag vor ihm, die wichtige Stelle für die Sonntagspredigt bereits aufgeschlagen: Tut Ehre jedermann, habt die Brüder lieb, fürchtet Gott und ehret den König.
Hört nicht auf Verleumdungen und Lügen, würde er den Menschen predigen. Manche wollen ihren Mitmenschen schaden mit üblem Gerede und falschen Anschuldigungen. Verurteilt niemanden zu Unrecht. Du sollst kein falsches Zeugnis geben, spricht der Herr. Glaubt nicht alles, was die anderen über jemanden erzählen. Guckt euren Nächsten an und ihr werdet sehen, er ist wie ihr. Die Wahrheit findet ihr in seinem Gesicht und nicht in den bösen Worten mancher Lügner. Die haben nichts anderes im Sinn, als den Sonnenschein zu verdunkeln. Sie sollen daran denken, dass sie dabei auch sich selbst das Licht wegnehmen.
„Du solltest eine Pause machen, Johannes.“ Dorothea stand in der Tür.
„Ist es schon so weit, Frau?“
„Zeit zum Abendessen. Ich kann jetzt auch eine Mahlzeit gut vertragen, hab ich doch zusammen mit Agnes den ganzen Nachmittag im Pfarrgarten die Erde gelockert.“
„Ja, das schöne Frühlingswetter, jetzt muss man den Boden vorbereiten. Pass nur auf, dass du dich nicht übernimmst.“
„Morgen werden wir mit der Aussaat beginnen. Dann komm jetzt herüber, Johannes.“

*

Der Mond schien in die Kammer. Dorothea saß im Bett und schaute zu ihrem Mann. Sie war aufgewacht, weil der sich unruhig hin- und herwälzte.
„Kannst du nicht schlafen?“
„Ich denke die ganze Zeit an die Frau von Bauer Feldmann. Vor einigen Tagen haben sie sie in den Turm gebracht.“
„Eine Zauberische, sagen sie auf dem Marktplatz. Das Vieh vom Brückenschmied und vom Schulzheißen hat sie tot gezaubert.“
„Das ist dummes Gerede, Dorothea. Und du machst da noch mit. Niemand kann Vieh tot zaubern. Die Tiere werden krank, weil die Menschen kaum Futter für sie haben. Sie haben ja nicht einmal selbst genügend zu essen. Aberglaube ist das. Ich muss etwas dagegen tun.“
„Was willst du denn tun? Ändern kannst du nichts. Gegen die Obrigkeit hast du keine Macht.“
„Fünf Kinder weinen nach dieser armen Frau. Die ganze Familie wird ins Unglück gestürzt.“
„Sie soll beim Hexentanz gewesen sein und so viel Regen gemacht haben, dass das Korn im Boden verfault ist. Deshalb haben die Leute nichts zu essen und kein Futter für ihr Vieh.“
„Ein Unsinn ist das. Kein Mensch kann durch die Luft fliegen. Auch nicht zum Hexentanz. Und kein Mensch kann Regen machen und das Vieh tot zaubern. Die Tiere sind verendet, weiß Gott warum.“
„Sie haben aber doch schon viele Hexen verbrannt, die Unwetter, kalte Winde und Schnee bis ins Frühjahr gezaubert haben. Die hohen Herren von der Obrigkeit können doch nicht im Unrecht sein.“
„Wetter kommt nicht von Menschen, Weib. Blitz, Sturm, Hagel Krankheiten, alles kommt von Gott.“
„Die Zauberischen hätten sich von Gott abgewandt und einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, sagen sie unten auf dem Marktplatz. All das Unglück brächten sie im Bund mit dem Satan.“
„Die Leute sollen Gott vertrauen und zu Gott beten, immer wieder. Wer sich von Gott abwendet, muss bekehrt und auf den richtigen Weg geführt werden. Das gilt auch für sogenannte Zauberer. Kein Mensch hat das Recht, einen anderen zu quälen und ihm das Leben zu nehmen. Die das tun, sind selber des Teufels.“
„Sprich leise, Johannes. Denk dran, dass Agnes nebenan in der Kammer liegt. Wenn sie beim Wasser holen am Brunnen darüber spricht, kann das böse Folgen haben. Jetzt schon tuscheln sie hinter meinem Rücken. Unser Herr Pfarrer ist mit den Zauberischen, sagen die Leute.“
„Ach Dorothea, ich bin das gewöhnt. Immerhin kann ich mich darauf verlassen, dass der Graf eine hohe Meinung von mir hat.“
„Trotzdem habe ich Angst, Johannes.“
„Frau, lass uns schlafen.“

*

Still war es im Haus von Bauer Feldmann. Selbst das Schnattern der Gänse auf dem Hof schien leiser zu sein als vor drei Wochen. Pfarrer Johannes war den langen Weg durch die Felder gelaufen und saß nun Hans Feldmann gegenüber, der sein Unglück nicht fassen konnte.
„Ja. Herr Pfarrer, wer hätte gedacht, dass so etwas über einen kommen kann? Wochenlang sitzt Margreth jetzt schon im dunklen Verlies, kalt und feucht. Ich mag gar nicht daran denken, wie es um sie steht. Sie wird doch auch immer schwächer.“
„Ein Jammer ist das, Feldmann, nicht nur für deine arme Frau.“
Maria, Georg und Anton saßen auf der Bank und drückten sich eng aneinander. Maria hielt den kleinen Peter im Arm. Alle Kinder schauten den Pfarrer mit großen Augen an.
„Wann sollte sie denn beim Hexentanz gewesen sein? Sie war doch immer hier, mit mir und den Kindern. Die weinen nach ihr und haben Hunger. Das Vieh will versorgt und gehütet sein. Wie soll ich das Korn in die Erde bringen?“
„Hast du schon etwas unternommen? Ich meine, warst du in der Stadt?“
„Vor zwei Tagen war ich mit den Kindern im Schloss, hab beim Hofmeister vorgesprochen und ihm alles gesagt.“
„Hast du Hoffnung geschöpft?“
„Hoffnung? Sie sei höchst verdächtig und es gebe genügend Zeugenaussagen gegen sie. Und du, Feldmann, hat der Hofmeister zu mir gesagt, du bist selbst in ihrem Zauberbann. Und was sei mit Magdalene, der Ältesten? Die habe wohl von der Mutter das Zaubern gelernt.“
„Wo ist Magdalene eigentlich? Ich hab sie noch gar nicht gesehen.“
„Das ist auch so eine Sache, Herr Pfarrer. Mein Bruder hat sie gestern weit weggebracht, zu Verwandten in die große Stadt, wo man sie nicht kennt. Wer weiß, was sonst noch mit ihr würde. Doch jetzt hab ich noch weniger Hilfe in Haus, Stall und auf dem Feld. Und Gerede wird es auch wieder geben. Ach, Herr Pfarrer!“
Dicke Tränen kullerten dem Mann über die Wangen. Johannes konnte das Elend kaum ansehen. Was sollte er nur tun?
„Immerhin konnten sie deiner Frau nichts nachweisen. Ich bin mir sicher, dass sie unschuldig ist. Und wenn das so ist, dann muss sie freigelassen werden. Ich werde mich dafür einsetzen, dass alles zu einem guten Ende kommt. Mit allen meinen Kräften werde ich das tun. Und mit Gottes Hilfe. Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben. Verliere nicht den Glauben an die Güte des obersten Herrn im Himmel. Denk dran, dies ist Menschenwerk und nicht Gotteswerk. Bete jeden Tag inbrünstig, auch mit deinen Kindern. Ich bete, dass Gott dich erhört.“
„Danke, Herr Pfarrer, ich versuche, was ich kann.“
„Und wenn der Graf von der Reise zurück ist, werde ich sofort bei ihm vorsprechen und ihm eure Sache vortragen. Wir können nur hoffen, dass er bald wieder im Lande ist. Und jetzt erst einmal werde ich darum bitten, deine Frau besuchen zu dürfen.“

*

Weitere drei Wochen waren vergangen, als der Pfarrer endlich die Erlaubnis bekam, die Gefangene im Schlossturm zu besuchen. Modriger Gestank stieg ihm in die Nase, als die schwere Holztür geöffnet wurde. Er schaute in das dunkle Gewölbe und wandte sich sogleich um zum Wachmann.
„Nimm der Frau die Kette ab“, forderte er ihn auf.
„Nein, nein, Herr Pfarrer. Das kann ich nicht. Ich habe strenge Anweisung. Wenn sie flüchtet, hab ich nix zu lachen. Dann heißt es gleich, ich stecke mit dieser Hexe unter einer Decke.“
„Wie soll sie weglaufen, so schwach wie sie ist? Also, tu was ich sage. Oder bist du am Ende selbst ein Hexer?“
Der Mann gehorchte.
Johannes ging hinein. Mit angstvollen Augen schaute die Frau ihn an.
„Vor mir musst du dich nicht fürchten, Margreth. Komm hierher.“ Er breitete sein Wams auf dem armseligen Häuflein Stroh aus, half ihr und setzte sich neben sie.
„Margreth, ich war draußen bei deinem Mann und soll dir sagen, es geht ihnen einigermaßen, so gut es eben geht mit den Kindern, wenn die Mutter fehlt.“
„Was ist mit Peter?“, fragte sie ängstlich.
„Dem Kleinen geht es gut. Er vermisst dich zwar sehr, doch dein Mann und Maria kümmern sich um ihn.“
„Und Magdalene?“
„Dein Schwager hat sie weit weg zu euren Verwandten gebracht.“
Sie atmete auf.
„Faustens Anna hat uns dieses Unglück eingebrockt“, sagte sie. „Hat einen Zorn auf mich gehabt, weil ich ihre Gänse von meiner Wiese gejagt hab. Danach ist eine verendet.“
„So ein Unsinn, zu glauben, Hexen verzaubern das Vieh“, antwortete er. „Wer weiß, woran die Gans verendet ist? Kein Mensch kann Tiere tot zaubern. Alles kommt von Gott. An den sollen sie glauben.“
„Wenn doch auch die Gerichtsmänner so reden würden wie Sie, Herr Pfarrer. Doch die kennen kein Erbarmen. Ein Geständnis wollen sie, nichts anderes. Wie soll das mit mir nur weiter gehen? Ich habe so große Angst.“
„Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben, Margreth, und vor allem nicht den Glauben an den höchsten Herrn im Himmel. Gott ist gerecht. Dies ist Menschenwerk und nicht Gotteswerk. Bete jeden Tag zu Gott.“

*

Einige Tage darauf war der Pfarrer in die Folterkammer des Schlosses geladen, wo der Scharfrichter Margreth Feldmann die Folterinstrumente zeigen sollte. Es tat ihm weh zu sehen, wie die geschundene Frau von zwei Männern hereingeschleift wurde.
„Je eher du geständig bist, desto besser“, fuhr der Scharfrichter sie an. „Ansonsten, sieh dir an, was dich erwartet“.
Ein Folterknecht holte zwei gebogene Eisenplatten mit Löchern und Schrauben.
„Dieses Eisen wird an dein Bein gelegt und so fest geschraubt, wie du es dir nicht vorstellen kannst. Der Teufel wird dir nicht helfen. Besser, du bist geständig. Wenn nicht, guck dir das hier an.“
Sie schleppten Margret zu einem Seil, das an einem Flaschenzug unter der Decke befestigt war.
„Daran wirst du hochgezogen. Hände auf dem Rücken zusammengebunden. So.“
Zwei Folterknechte rissen ihr die Arme auf den Rücken. Sie schrie auf und sackte in sich zusammen. „Ohne Kleider, versteht sich. Du wirst so lange hochgezogen, bis deine Schultern auskugeln. Und wenn du dann immer noch nicht geständig bist, kannst du dir ja denken, was passiert. Du wirst noch mal hoch gezogen. So oft, bis du gestehst, dass du eine Hexe bist. Also, überleg es dir gut. Die ganze Wahrheit muss ans Licht. Und sie kommt ans Licht.“

*

Da Margret Feldmann bei der Vorführung der Folterinstrumente kein Geständnis abgelegt hatte, wurde sie am Tag darauf peinlich befragt. Ihre anhaltenden Schreie waren in der ganzen Stadt zu hören.
Der Pfarrer lief in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Vom Fenster aus sah er, wie Männer, Frauen und Kinder sich vor dem Schloss drängelten, um möglichst nah dran zu sein an dem grausamen Geschehen. Sie warteten schon auf das große Ereignis und grölten im Chor: „Hexe, Hexe, brennt sie, brennt sie!“
„Ich sehe, wie du dich quälst.“ Seine Frau stand plötzlich neben ihm.
„Dorothea, es ist Unrecht, was dort geschieht. Sie martern eine unschuldige Frau auf das Härteste und zerstören nicht nur ihr Leben, sondern auch das ihres Mannes und ihrer Kinder. Es ist Teufelswerk, was sie da tun. Ich muss hinüber zum Schloss.“
„Das kannst du nicht tun. Du kannst nichts ausrichten. Das Hofgericht wird wissen, was es macht. Wer weiß, was mit uns wird, wenn du dich in Angelegenheiten der Obrigkeit einmischst. Schon viel zu viel hast du getan. Überall in der Stadt hört man es. Unser Pfarrer ist ein Hexenadvokat. Es ist Wahnsinn. Sie werden dich als Aufrührer ansehen und dich auch anklagen. Meinst du, ich will dich brennen sehen?“
„Weißt du, Dorothea, seit meiner Kindheit verfolgt mich der Blick einer Frau, die damals auf einem Karren zum Scheiterhaufen gefahren wurde. Es war wie ein Jahrmarkt. So wie jetzt hier auf unserem Marktplatz, direkt vor unserem Hause. Die Frau war hochschwanger. Das Kind sei aus einer Buhlschaft mit dem Teufel hervorgegangen, sagten die Leute. Deshalb müsse es gleich mit brennen. Sie hat mich angeschaut, Dorothea, mit gebrochenem Blick. Ich weiß nicht, wie oft sie mir im Traum wieder begegnet ist. Immer wieder hab ich dieses Bild vor mir. Die Frau und das ungeborene Kind im Feuer.“
„Johannes, es ist schrecklich, was du erzählst. Aber vielleicht war sie wirklich eine Hexe und das Kind vom Teufel. Bring uns nicht ins Unglück. Denk an uns und an unser ungeborenes Kind. Ich habe Angst.“
Sie weinte.

Als eine Gruppe von Männern, Frauen und Kindern mit lautem Geschrei auf das Pfarrhaus zustürmte und ein heftiges Klopfen an der Tür zu hören war, gab es kein Zögern mehr. Mit großen Schritten eilte Pfarrer Johannes durch die Menge über den Platz zum Schloss und verschaffte sich Einlass zur Folterkammer.
„Ihr Richter, lasst die Frau frei. Ihr habt nicht das Recht sie länger zu quälen.“
Sofort ließen die Folterknechte von dem wimmernden Bündel ab.
Der Hofmeister stellte sich ihm in den Weg.
„Wie kommt Ihr dazu, Euch derart ungebührlich Einlass zu verschaffen?  Wir müssen unser Land schützen vor all dem Schaden, den diese Zauberer über uns bringen. Unwetter zaubern sie und brauen beim Hexentanz so viel Regen, dass das Korn in der Erde verfault und das Vieh verendet. Im Namen des Gesetzes müssen wir diese Frau zum Geständnis bringen. Sie hat einen Pakt mit dem Teufel.“
„Wo sind Eure Beweise? Ihr stützt eure Anklage auf Gerüchte. Ich habe mit Margreth Feldmann gesprochen. Sie führt ein gottgefälliges Leben. Nichts deutet darauf hin, dass sie sich dem Teufel zugewandt hat. Gott spricht, du sollst falscher Anklage nicht glauben.“
„Das Gericht muss jede Verdächtigung verfolgen, um dieses Hexengeschmeiß aufzuspüren.“
„Aber nicht mit Marter und Pein. Nirgendwo in der Bibel steht das. Oft beschuldigen die wahren Missetäter unschuldige Leute, um ihnen Schaden zuzufügen. Rachsucht treibt sie an. Diese Bekenntnisse sind nichts wert.“
„Deshalb brauchen wir die peinliche Befragung, um genau zu forschen, ob die Frau eine Zauberin ist.“
„Ich sage Euch, lasst sie frei. Nach wochenlanger Tortur ist sie verwirrt, aber nicht des Teufels.“
„Ich warne Euch, Pfarrer. Es ist ein Frevel, was aus Eurem Munde kommt. Ihr redet euch um Kopf und Kragen. Was wird der Graf dazu sagen?“
„Dies ist keine Angelegenheit der weltlichen Obrigkeit, sondern unseres obersten Herrn. Gott duldet nicht, dass ein Gericht Leid über unschuldige Menschen bringt. Ihr versündigt Euch und überlasst das Feld dem Satan.“
Ganz still war es geworden.
„Am Ende seid Ihr selbst Werkzeuge des Satans, habt einen Pakt mit ihm“, fuhr der Pfarrer fort. „Eines Tages müsst Ihr Euch vor Gott verantworten. Und Ihr, Folterknechte, Eure Marterwerkzeuge solltet ihr am eigenen Leib ausprobieren. Auch Ihr werdet zur Rechenschaft gezogen.“
Unsicherheit spiegelte sich in den Gesichtern.
„Ihr macht uns Angst“, sagte der Hofmeister. „Wie kann ein Richter seine Arbeit tun, wenn der Pfarrer ihn des Satanswerks verdächtigt? Worte wie Eure sind mir noch nicht in die Ohren gekommen. Ich weiß nun auch nicht mehr weiter. Soll der gräfliche Herr nach seiner Rückkehr die Sache entscheiden.

*

Margret lag teilnahmslos auf dem Karren, mit dem ihr Mann sie nach Hause bringen wollte.
‚Gebe Gott, dass sie die holprige Fahrt durch die Felder überlebt’, dachte der Pfarrer, als er sich von Hans Feldmann verabschiedete. Der hielt ein Papier in der Hand, worauf zu lesen war, dass er der Stadt für gerichtliche Dienste neunzehn Gulden, neunundvierzig Albus und zwei Pfennige zu zahlen hatte, für Zeugen, den Büttel und Wirt bei Gefangennahme, den Bewacher im Turm, den Scharfrichter, zwei Folterknechte und für sechs Maß Wein bei peinlicher Befragung.

"Hexenadvokat" und drei weitere historische Erzählungen aus: History

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