(Theodor Althaus in Berlin nach dem 18. März 1848)
Am 20. März
1848 erreichte er gegen Mittag Berlin. Es war ein seltsames Szenario in der
Stadt. Männer, Frauen und Kinder liefen zwischen Barrikaden und
herausgerissenen Pflastersteinen. Die meisten feierten einen Sieg. Doch andere
suchten verzweifelt nach vermissten Angehörigen.
Theodor ging
von Kirche zu Kirche, schaute in die jungen Gesichter der dort aufgebahrten
Toten, die schrecklichen Wunden, die stille Siegesgewissheit in den bleichen
Zügen. Auf der Straße sprach er die Menschen an, hörte ihre Berichte über die
Ereignisse der Nacht von Samstag auf Sonntag und setzte das Puzzle zusammen
über die friedliche Versammlung vor dem Schloss, die Proklamation des Königs,
laute Rufe aus der Menge, die Forderung nach Abzug der Soldaten, zunehmende
Unruhe, plötzlich ein Schuss von irgendwoher, noch ein Schuss und dann der
fürchterliche Sturm. Unaufhaltsam tobte der in Straßen und auf Plätzen. Alle
machten mit beim Bau der Barrikaden, vom einfachen Tagelöhner und Handwerker
bis zum Beamten, Studenten, Arzt und Advokaten. Frauen, Kinder und Greise waren
dabei. Mit allen Mitteln kämpften sie, beschafften Material für den
Barrikadenbau, besorgten Waffen, gossen Kugeln, steckten deutsche Fahnen auf,
Frauen versorgten die Kämpfenden mit Speisen und Getränken, Unaufhörlich tönten
die Sturmglocken in der Stadt. Die ganze Nacht. Bis zum nächsten Morgen. Bis
kein Soldat einziger mehr zu sehen war.
In einer
Kirche fand er ein stilles Plätzchen, wo er ungestört verweilen konnte. Nachdem
er sich ein wenig gefangen hatte, zog er Papier und Feder aus der Tasche und
schrieb einen Artikel für die
„Weser-Zeitung“. Das war er den Toten schuldig. Ihr mutiger Kampf durfte
nicht umsonst gewesen sein.
Es war schon
dunkel, als er am Abend vor dem Haus des Großvaters in Potsdam stand. Obwohl
das Fenster des Balkonzimmers hell erleuchtet war, musste er lange auf Einlass
warten. Später erfuhr er den Grund. Dräseke war vor Übergriffen von
Aufständischen gewarnt worden und die im Hause Anwesenden, des Großvaters
jüngere Tochter, Enkelin Elisabeth aus Detmold und ein Diener, fürchteten den
dunklen Mann an der Tür und waren heilfroh, als es dann der älteste Enkel war.
Der berichtete von den Spuren der Berliner Horrornacht, bevor er sich völlig
erschöpft zurückzog. Elisabeth machte sich Sorgen und folgte dem Bruder in sein
Zimmer. Der hatte sich schon ins Bett gelegt: Sie erinnerte sich: „Ich setzte
mich zu ihm und sah nun erst, wie verändert, wie von Erregung und Schmerz
durchwühlt, seine Züge waren.“
Am nächsten
Tag war Theodor dabei, als König Friedrich Wilhelm IV. mit schwarz-rot-goldener
Armbinde durch die Straßen von Berlin ritt und vor Studenten der Berliner
Universität eine Rede hielt, wobei er sich zu der Formulierung hinreißen ließ:
„Preußen geht fortan in Deutschland auf.“
Und er nahm am
22. März auf dem Gendarmenmarkt an der Trauerfeier für die 183 Toten teil,
folgte dem unbeschreiblich langen Leichenzug mit den bekränzten Särgen,
zunächst bis zum Schloss, wo sich der preußische König Friedrich Wilhelm IV.
auf Verlangen des Volkes mit gezogenem Hut vor den toten Revolutionären
verbeugen musste, dann vor die Tore der Stadt zur Beisetzung auf dem eigens
eingerichteten „Friedhof der Märzgefallenen“ auf einem Hügel in Friedrichhain.
„Der
Leichenzug. Die seidenen, schwarzrothgoldenen Trauerfahnen […] nach den Thränen
stumpfte sich alles ab. Zu lang. Die anarchische Schwüle über Berlin“, notierte
er im Tagebuch.
Er sei ein
Mann geworden, meinte Großvater Dräseke und da hatte er recht. Die harte
Konfrontation mit den menschlichen Tragödien, die rohe Gewalt gegen die eigenen
Brüder, Söhne eines Volkes, hatte ihn in tiefster Seele getroffen.
Der Weg würde
ein harter und steiniger werden. Die „faulen Früchte der Geschichte“ waren
mächtiger, als er es sich in seinen idealistischen Vorstellungen ausgemalt
hatte. So einfach fielen die nicht in sich zusammen. Wie sonst wäre es möglich,
dass Soldaten als Spielzeug eines konzeptlosen Monarchen mit vorgeblicher
Gottes-Gnaden-Legitimation ein so schreckliches Blutbad anrichteten?
Althaus
Artikel erschien unter der
Überschrift „D i e
B e r l i n e r
R e v o l u t i o n“ am 22. März 1848 auf der Titelseite der
„Weser-Zeitung“. Er hatte den historischen Stellenwert des Geschehens als
„Bluttaufe der deutschen Freiheit“ erkannt und eine überaus sensible Würdigung
des leidenschaftlich entschlossenen Kampfes gegen die starre Willkürherrschaft
des schwachen preußischen Königs verfasst: „Die giftige Saat, die Untergrabung
alles Vertrauens, das schwankende Spielen zwischen der persönlichen Willkür und
den gerechtesten Forderungen des Volkes, die Demoralisation der höchsten
Staatsgewalten, welche sich durch den Schein und die Heuchelei eine erträumte
Macht zu sichern wähnten, ist nun so blutig aufgegangen. Deutschland wird den
achtzehnten März dieses Jahres nie vergessen.“
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