(Wanderung zum Hermannsdenkmal
bei Detmold – Pfingsten 1846)
Malwida von Meysenbug war sehr früh aufgewacht. Wie immer, wenn
ein Wiedersehen mit Theodor bevorstand, war sie aufgeregt. Das blaue
Musslinkleids hatte sie für heute gewählt. In Hyères hatte sie es in den
Frühlingstagen so gern bei ihren Wanderungen getragen. Auch in Detmold gab es
wunderbare Frühlingstage. Dieser Pfingstsonntag war einer. Durch das Fenster
sah sie nur blauen Himmel, nicht das kleinste Wölkchen und auch in Detmold gab
es heute eine Wanderung.
Den ganzen Winter über hatte sie ihren Freund Theodor Althaus nicht gesehen, nur ab und zu Briefe von ihm erhalten. Das war im vergangenen Sommer noch anders gewesen. Bei literarischen Abenden im Salon der Mutter hatte er den zweiten Teil von Goethes „Faust“ vorgetragen. Das konnte niemand so wie er. Niemand konnte die Zuhörer mit Worten so fesseln wie Theodor. Allein seine Stimme. Sie bekam nie genug davon, wenn er sprach. Doch seitdem er seine freiheitlichen Gedanken zu Religion und Gesellschaft in Magazinen und Broschüren publizierte, redete man in der lippischen Residenz über ihn. Und nichts Gutes. Vor allem in Malwidas Familie war ihre Verbindung zu ihm ein Ärgernis. Von Bruder Carl von Meysenbug und Schwager Funck von Senftenau heftig abgelehnt und für die Mutter war er längst nicht mehr der erwünschte Partner für die Tochter, den sie sich drei Jahre zuvor noch gut als Partner für die Tochter hätte vorstellen können. Verächtlich nannte man ihn nun einen Demokraten, von dem die heiratsfähige Tochter sich fernzuhalten hatte.
Den ganzen Winter über hatte sie ihren Freund Theodor Althaus nicht gesehen, nur ab und zu Briefe von ihm erhalten. Das war im vergangenen Sommer noch anders gewesen. Bei literarischen Abenden im Salon der Mutter hatte er den zweiten Teil von Goethes „Faust“ vorgetragen. Das konnte niemand so wie er. Niemand konnte die Zuhörer mit Worten so fesseln wie Theodor. Allein seine Stimme. Sie bekam nie genug davon, wenn er sprach. Doch seitdem er seine freiheitlichen Gedanken zu Religion und Gesellschaft in Magazinen und Broschüren publizierte, redete man in der lippischen Residenz über ihn. Und nichts Gutes. Vor allem in Malwidas Familie war ihre Verbindung zu ihm ein Ärgernis. Von Bruder Carl von Meysenbug und Schwager Funck von Senftenau heftig abgelehnt und für die Mutter war er längst nicht mehr der erwünschte Partner für die Tochter, den sie sich drei Jahre zuvor noch gut als Partner für die Tochter hätte vorstellen können. Verächtlich nannte man ihn nun einen Demokraten, von dem die heiratsfähige Tochter sich fernzuhalten hatte.
So hatte Malwida auch niemanden im Hause über ihr Vorhaben an
diesem Pfingsttage informiert. Zusammen mit Theodor und dessen Schwester und
Bruder plante sie einen Ausflug zum halb fertig gestellten Hermannsdenkmal auf
die Grotenburg. Ihrer Mutter hatte sie nur gesagt, dass sie mit Freunden in der
freien Natur spazieren gehe. Längst hatte Ernestine von Meysenbug es aufgegeben, von ihrer Tochter gemeinsame Kirchgänge zu
erwarten. Sie und Laura würden nicht verstehen, warum ihr diese Demonstration
für das Denkmal zur Einheit des deutschen Volkes so wichtig war, gehörten sie
doch zu denjenigen in der lippischen Residenz, die sich weigerten, den Erbauer
Ernst von Bandel zu unterstützen. Ein
Wunder, dass der Mann überhaupt noch an dem Vorhaben weiter arbeitete. Wie
lange noch? Das Geld war ausgegangen, das Bauwerk war viel teurer geworden, als
vorgesehen. Und die Figur des Cheruskerfürsten Hermann? Das war die Frage.
Immerhin war der Sockel fast fertig gestellt. Man hatte das Bauwerk für diesen
Festtag zur Besichtigung frei gegeben.
Es war noch ruhig auf der Hornschen Straße, kein Mensch zu sehen.
Theodor würde über die Leopoldstraße kommen. Doch es war noch früh. Malwida
nutzte die Zeit und schlug ihr Reisebuch auf. So nannte sie das Skizzenbuch
jetzt. Auch ein Jahr nach der Rückkehr aus der Provence war es noch immer ihr
bester Freund. Erinnerungen an Monsieur Hugo am Place de Palmiers, die
bescheidene Fischerfamilie und deren glückliches Leben, die einsam verträumte
Abendstunde am Lac du Bourget und die zwei Bäume im Wind am Rande der
Passstraße zum Col Bayard, ein kleiner und ein großer, nachträglich vorsichtig
koloriert in warmen Grüntönen vor schneebedeckten Berggipfeln. Wie Morgenstern
es sie gelehrt hatte, zum Hintergrund hin heller werdend, um Tiefenwirkung zu
erzielen. Sie wusste selbst nicht, ob ihr das gelungen war, doch dieses Bild
gefiel ihr von allen am besten, weil es sie daran erinnerte, was sie dem großen
Weltgeist auf dem Weg zur Passhöhe gelobt hatte. Den unbequemen Weg wollte sie
gehen, der zur Wahrheit führte. Wie seltsam, dass sie das Bild gerade jetzt vor
sich hatte, gezeichnet am Pfingstfest vor einem Jahr. Zwei Bäume im eisigen
Wind warten auf den Frühling.
Endlich war es so weit. Zusammen mit Schwester und Bruder bog ihr
Apostel um die Ecke und schaute gleich hoch zu ihrem Fenster. Sie winkte hinaus
und lief die Treppe hinunter. Das schwere Eichenportal schloss sie so leise wie
möglich, damit niemand geweckt würde.
Theodor kam ihr schon entgegen. Sie reichte ihm die Hände und ein Blick
in seine Augen sagte, er hatte sie noch lieb. In stiller Übereinkunft gingen sie
entlang des Wassergrabens durch die Allee, am Palaisgarten vorbei, bis sie die
Wiesen vor der Stadt erreichten. Dann durchquerten sie die Felder und wanderten
zwischen jungen Birken und Kiefern, bis sie den Pfad im Wald erreichten, der
hinauf führte zum Denkmal auf der Grotenburg. Elisabeth und Friedrich
gingen voraus, so dass sie nach einer
Wegbiegung gar nicht mehr zu sehen waren.
Angenehm war es hier im Schatten zwischen den schlanken
Buchenstämmen, umgeben vom hellen Grün der frischen Blätter. Als sich ihre
Hände berührten und seine Finger sanft die ihren umschlossen, fühlte sie sich
glücklich wie lange nicht mehr. Ihr Traum am Lac du Bourget war Wirklichkeit in
dem Moment. Lass mich mit ihm weiter gehen, immer weiter diesen Weg, lass es
nie zu Ende sein, wünschte sie insgeheim.
„Elisabeth und Friedrich sind gar nicht mehr zu sehen“, sagte er und da war der Traum auch schon wieder zu Ende geträumt. Überall wurden sie beobachtet, nie waren sie allein.
„Elisabeth und Friedrich sind gar nicht mehr zu sehen“, sagte er und da war der Traum auch schon wieder zu Ende geträumt. Überall wurden sie beobachtet, nie waren sie allein.
„Wir werden sie bald einholen.“
„Ist Ihre Frau Mutter wohlauf, Malwida?“
Was sollte sie ihm antworten? Die Mutter würde ihr am liebsten
verbieten, ihn zu sehen. Sollte sie ihm das sagen?
„Ach, Theodor“, seufzte sie. „Mutter sorgt sich sehr um den Vater.
Er zieht immer noch durch die hessischen Lande mit dem alten Kurfürsten,
während sein Sohn in Kassel die Regierungsgeschäfte wahrnimmt. Er kommt nicht
zur Ruhe und der Vater auch nicht. Dabei sind sie doch auch nicht mehr die
Jüngsten. Die Eltern sehnen die guten Kasseler Jahre zurück.“
„Besser wird es nicht, Malwida.“
Wie sanft seine Stimme klang. Sie sah zu ihm hoch. Nein, sie
konnte nicht von ihm lassen. Die blauen Augen und das klare Profil. Er war
nicht nur ein schöner Mann, er war ein ganz besonderer Mann. Sie liebte ihn,
dachte an die vielen Stunden in kleinen Kreisen, in denen sie sich in so vielen
Gedanken einig waren. Seine Ideen waren ihre Ideen und umgekehrt.
„Wie sich auch für uns die Zeiten verändert haben.“
„Die Luft ist kalt geworden“, antwortete er und sie dachte an die
zwei Bäume im eisigen Wind auf dem Weg zur Passhöhe, den großen und den
kleinen.
„Seitdem man Sie aus der Ressource ausgeschlossen hat, ist es noch
frostiger um uns herum.“
„Hach, der Leseverein.“ Er lachte bitter. „Dabei sollte der Saal
im Rathaus doch für jedermann sein, so steht es in den Statuten. Da sehen Sie
die Heuchelei, liebe Freundin. Nur Leute ohne eigene Meinung dürfen da hinein.“
„Es sei denn, sie sagen sie nicht.“ Malwida spürte Zorn
aufsteigen. „Dabei haben Sie in Ihrem Artikel zum Fürstenjubiläum nur gesagt,
was viele denken. Das Volksfest hatte diesen Namen nie und nimmer verdient. Das
Volk war nur Staffage, wie sie es geschrieben haben. So viel Geld für ein
Feuerwerk. Wie vielen Armen hätte man damit helfen können? Und das Theater
verschlingt viel zu viel Geld. Sie haben nur die Wahrheit geschrieben. Frank
und frei.“
„Wie können Sie so reden, Fräulein von Meysenbug? Was sagt Ihr
Bruder dazu und Ihr Schwager, der Intendant? Sind die doch in herausragender
Stellung am Hofe.“
Den Zynismus in seinem Ton konnte sie nur schwer ertragen. Dabei
sagte er auch ihr nur, was er dachte. Sollte sie ihm erzählen, dass Bruder Carl
und Schwager Funck ihn einen durch und durch unmoralischen Menschern nannten,
ihr ständig Vorwürfe machten und spotteten, wie sie sich so herablassen könne
und sich mit einem Demokraten einlassen? Er würde es klar ausdrücken, aber ihre
Art war es nicht, fürchtete sie doch zu sehr, jemandem Unrecht zu tun. Doch
wenn sie recht überlegte, taten die beiden Männer doch nicht nur Theodor
Unrecht, sondern auch ihr, indem sie vorschrieben, wen sie lieben sollte oder
nicht lieben durfte.
„Diese Kluft, Theodor, von der Sie geschrieben haben, zwischen
denen, die in der Reitbahn stundenlang tafeln und denen, die ihr karges
Mittagessen in einem Topfe kochen, die hat sich auch zwischen uns aufgetan.“
„Was soll ich dazu sagen? Ich denke an manche Abende im Salon in
Ihrem Palais. Schon vor dem Artikel war ich ein Fremdkörper in Ihrem Hause.“
„Theodor“, entrüstete sie sich.
„Sie haben getan, was Sie konnten, Malwida, immer wieder die Wogen
geglättet, mich beschwichtigt in Ihren Briefen. Und ich weiß warum. Weil sie
mich zu sehr lieben.“
„Sehen Sie, so ist es auch. Ich war Ihnen nie gram, wenn sie so
direkt die Wahrheit sprachen und damit aneckten.“
„Das weiß ich, Malwida, und weiß auch zu schätzen, dass Sie immer
zu mir hielten und es weiterhin tun. Doch vor Tatsachen können wir nicht die
Augen verschließen. Sie sind Aristokratin. Sie könnten in Adelskreisen eine
gute Partie abgeben. Haben Sie nicht immer gerne getanzt mit den jungen Prinzen
im Ballsaal des Schlosses?“
„Das ist lange her, Theodor. Machen Sie mich nicht wütend. Ich
habe Ihnen doch erzählt von meiner Erkenntnis beim Sonnenaufgang über dem Meer
auf der Straße von Toulouse nach Hyères. Warum glauben Sie mir denn nicht, dass
mir der schwierige Weg lieber ist als der bequeme, der mich vielleicht zum
Anhängsel eines Mannes von Stand macht. Ach, es ist doch schon alles schwierig
genug.“
„Durch mich haben Sie Schwierigkeiten, liebe Freundin, vergessen
Sie das nicht. Nur durch mich. Ohne mich sähe ihr Leben anders aus. Werden Sie
denn überhaupt noch zu Gesellschaften im fürstlichen Hause eingeladen?“
„Nicht mehr so oft.“
„Das heißt, überhaupt nicht. Man redet über uns beide in dieser
beschaulichen Residenz. Unsere Wanderung heute wird doch auch wieder ein böses
Geschwätz geben.“
„Darüber gräme ich mich überhaupt nicht. Meinen Sie, es macht mir
Freude mit Menschen zusammen zu sein, bei denen ich nicht denken darf, wovon
ich überzeugt bin? Muss ich denn an Orten sein, wo ich nicht sagen darf, was
ich denke? Ich bin nicht mehr so sanft und nachgiebig, wie man von mir glaubt.“
Er lachte, legte zärtlich seinen Arm um ihre Schultern und sie
ihren auf seine Hüfte. So gingen sie eng umschlungen, so eng, wie möglich. Am
Ende des Waldweges führte nach einer Biegung ein breiter Weg geradeaus zum
Denkmal. Der Bau aus hellgelbem Sandstein leuchtete vor strahlend blauer
Kulisse. Wie ein Tempel sah er aus mit den Säulen rundherum. Rechts waren
Schiebekarren und Schaufeln in einem Schuppen abgestellt und auf dem Rasenplatz
zu Füßen des Gebäudes hatten sich Menschen friedlich plaudernd niedergelassen.
Theodors Geschwister warteten dort schon
und gemeinsam gingen sie um das mächtige Gebäude herum.
„Es ist alles schön“ sagte Theodor, „aber so recht fehlt mir die Harmonie. Mir
scheint, die einzelnen Teile passen nicht zusammen. Die glatte runde Form des
unteren Teils, die gotisch anmutenden Säulen, die aber dann nicht in spitze
gotische Formen münden, das Eichenlaub, Ich kriege das nicht zusammen.“
„Die Figur des Hermann fehlt ja auch noch. Dadurch wirkt das
Denkmal noch unfertig, was es ja auch ist“, meinte Malwida.
Über eine schmale Wendeltreppe stiegen sie zwischen engen dunklen
Mauern hinauf auf die Plattform. Dort hatten sie freie Sicht und konnten über
die Ebene der Senne weit hinwegsehen. Malwida war, als könnte sie sogar fern im
Westen den Rhein sehen. Sie stellte sich vor, an der Hand des geliebten Mannes
in diese Richtung zu gehen, immer weiter, bis sie gefunden hätten, was sie sich
mehr wünschten, als alles andere auf der Welt. Der Mann, den sie liebte, stand
still an ihrer Seite und schaute ebenfalls in die Ferne, als hätte er gerade
dieselben Gedanken von Freiheit und Liebe.
Als die Töne einer Kirchenglocke aus dem Tal heraufdrangen, nahm
Elisabeth ihren Bruder an die Hand und bat ihn, zu den Leuten zu sprechen, die
dort so andächtig standen, als würden sie darauf warten, dass jemand das tat.
„Die Menschen haben es verdient, dass in dieser festlichen Stunde
jemand zu ihnen spricht, Theodor“, meinte auch Malwida.
„Und wer sollte das tun? Etwa ein Prediger ohne Anstellung?“
„Wer könnte das besser, als Sie, mein lieber Freund? Sie haben
ihnen doch eine ganze Menge zu sagen. Sie warten auf eine Botschaft. Denken Sie
doch an Ihr Buch.“
Damit meinte sie seine Schrift von der Zukunft des Christentums,
an der er all die Wintermonate lang gearbeitet und jetzt fertig gestellt hatte.
Nach einigem Bedenken legte er seinen schwarzen Hut auf eine Bank,
sodass ihm die dunklen Locken auf die Schultern fielen, und schaute einige Landmänner
und Handwerker an, die in der Nähe
standen. Als die auch ihre Kopfbedeckung ablegten, begann er seine Predigt. Er sprach vom Gott,
der nicht in Tempeln wohne, sondern überall auf der Welt sein Reich habe, und
vom Geist des Pfingstfestes als dem Geist der Freiheit und der Liebe und er
redete von einer Welt, in der es genügend Brot für alle gebe. Zum Schluss
sprach er noch einige Worte zum Denkmal und der damit verbundenen Verpflichtung
zur Einigkeit der ganzen deutschen Nation.
Die Umstehenden verharrten noch eine Weile und nickten dem jungen
Prediger zu, als wollten sie ihm mitteilen, dass seine Worte ihnen Hoffnung auf
bessere Zeiten gegeben hatten. Ein Mann kam auf ihn zu, gab ihm die Hand und
bedankte sich für die feierliche Stunde. Aus Leipzig kam er, wo er eine
Buchhandlung hatte, erfuhren sie. Die Reise an die Weser hatte er gemacht, um
das Grab seiner verstorbenen Frau zu besuchen und fühlte sich nun getröstet.
Malwida fühlte sich an den jungen Prediger in der Detmolder
Stadtkirche erinnert, den Kandidaten der Theologie nach dem Studium. Seine
erste öffentliche Predigt. Einen schwarzen Talar hatte er getragen und dunkle
Locken bis auf die Schultern wie jetzt. Ganz still war es zwischen den Bänken,
als er seine Gedanken und Ideen zu einem Leben in Freiheit und Liebe
formulierte, so glänzend, wie sie es nie zuvor erlebt hatte. Damit hatte er sie
von ihren zerstörerischen Zweifeln befreit und seitdem hatte er einen Platz
ganz tief in ihrem Herzen.
Auf dem Heimweg ging ihr Apostel schweigend an ihrer Seite. Sie
fühlte, was ihn bedrückte. Was nützte ihm der Zuspruch der Menschen, wenn
diejenigen, die zu bestimmen hatten, ihm keine Möglichkeiten zur Entfaltung
seiner Fähigkeiten gaben? Sein Vater hatte einmal als junger Prediger in einer
lippischen Landgemeinde begonnen und war jetzt Generalsuperintendent des
Fürstentums. So eine Laufbahn hätte er für Theodor auch gewünscht. Doch daran
war gar nicht zu denken, zu klar seine Überzeugungen, zu ehrlich und zu offen
vorgetragen, seine Vorstellungen von Erneuerungen in Kirche und Staat.
Die Geschwister waren wieder voraus gegangen. Es war schwierig ein
Gespräch mit ihm zu beginnen. Sie nahm seine Hand.
„Wenn es doch so einfach wäre“, seufzte er.
„Warum machen Sie es sich so schwer?“
„Malwida, habe ich den Menschen Hoffnungen gemacht, die nicht
erfüllt werden können?“
„Sie haben den Menschen sehr viel gegeben, Theodor.“
„Nein, nein, etwas anderes brauchen sie.“
„Haben Sie denn nicht ihre Augen gesehen? Hoffnung und Zuversicht
waren darin zu lesen.“
„Von Gerechtigkeit habe ich gesprochen. Gibt es die denn in diesem
Lande?“
„Wir müssen Geduld haben.“
„Meine Geduld ist erschöpft, lange schon.“
Unter einer großen Kastanie im Palaisgarten blieb sie stehen. Hier
hatte sie oft gesessen, auf die Stadt hinunter geschaut, gezeichnet und
Gedichte geschrieben. Sollte denn dieser schöne Tag einfach davon fliegen?
„Sehen Sie doch die herrliche Natur, Theodor. Vögel zwitschern und
bauen Nester.“
„Und die Menschen bauen Häuser, das wollen Sie doch sagen.“
„Immer wieder tun sie das. Sie geben die Hoffnung nicht auf.“
„Doch ist dort Gerechtigkeit? Nein. Rauchende Öfen in niedrigen
Stuben und schreiende Kinder. Was nützt den Menschen die herrliche Natur, wenn
sie nicht wissen, wie sie den nächsten Tag überleben sollen. So ist es doch in
unserem Lande. Die meisten leiden Not. Allergrößte Not. Sie wissen es doch
selbst von Ihren Besuchen bei den armen Familien, Malwida. “
Ein Ausdruck von Härte war in seinen Augen.
„Das ist schon wahr. Doch es braucht Zeit, Theodor.“
„Sehen wir es doch, wie es ist. Wenigen geht es gut und die vielen
anderen sind bitterarm. Dabei müssen die Armen von dem Wenigen den Reichen noch
abgeben. Ist das denn gerecht? Freiheit und Liebe ist nur möglich, wenn es
allen Menschen gut geht.“
Ja, das war ein weites Feld. Sie waren den Weg hinunter gegangen
bis zur Hornschen Straße und erreichten das Meysenbugsche Palais.
„Wie soll das nur weiter gehen mit uns?“, sagte Malwida traurig.
Sanft nahm er ihre Arme, zog sie an sich. „Wenn es hier nur nicht
so eng wäre. Ich bin mir sicher, dass tausend Augen uns jetzt in diesem Moment
aus den Fenstern beobachten. Diese erbärmliche Feigheit ödet mich an.“
„Mir geht es nicht anders. Was sollen wir nur tun, Theodor?“
„Wir haben unsere Liebe. Und doch. Wir brauchen Freiheit.“
„Von der sind wir weit entfernt.“
„In dieser Enge kann Liebe nicht reifen, Malwida.“
Nach dem Versprechen, noch am selben Tag einen Brief an den
anderen zu schreiben, verabschiedeten sie sich mit einer langen Umarmung. Auf
dem Treppenabsatz vor dem Eichenportal blieb Malwida stehen und schaute dem
geliebten Manne nach, wie er die Leopoldstraße entlang ging. Bevor er zum
Marktplatz abbog, drehte er sich um und winkte.
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