(Schubart und Schiller auf
der Festung Hohenasperg - 1782)
Nachdem der Wachsoldat die schwere Eisentür geöffnet hatte, erhob
sich Schubart von seinem Lager und schlurfte leicht taumelnd zum Ausgang. Dann
stand er auf dem Hof der Festung und blinzelte in das grelle Sonnenlicht. Die
Kinder hatten bei seinem Anblick ihr ausgelassenes Spiel unterbrochen und
beobachteten ihn aus einiger Entfernung. Kein Wunder, dass sie Angst vor ihm
hatten, fühlte er sich doch selbst wie ein Ungeheuer, seitdem er hier gefangen
gehalten wurde.
Er wankte über den Platz und blieb einen Moment lang im Schatten
der alten Linde stehen, die Beine machten ihm zu schaffen. Es zog ihn um das
Kasernengebäude herum auf den Wall. Dort würde er ungestört sein, hinter dem
Turm mit dem Kerkerloch, seinem ersten Domizil hier auf dem Asperg, wo sie ihn
weggesperrt hatten wie ein Stück Vieh im Käfig. Sechs Schritte hin, sechs
Schritte zurück, Stunde um Stunde, dreihundertsiebenundsiebzig Tage und Nächte
in Dunkelheit und modrig faulem Gestank. Gefangner
Mann, ein armer Mann.
Doch immer noch war er nicht tief genug gefallen und musste dieses
verpfuschte Leben weiter ertragen. Keuchend stieg er die Treppe hinauf auf das
Plateau. Von hier aus ging der Blick auf grüne Weinfelder und idyllische
Ortschaften. Freiheit, doch nicht für ihn. Er beugte sich über die Brüstung,
tief hinunter ging es da. Könnte er sich doch einfach fallen lassen in diesen
Abgrund, Erlösung für die Ewigkeit hätte er dann. Worauf wartete er? ‚Los,
Schubart. Sei doch noch einmal mutig, ein allerletztes Mal’.
Nein, selbst dazu war er zu schwach. Helene und die Kinder kamen
ihm in den Sinn. Irgendwo dort hinter dem Horizont warteten sie auf seine
Freilassung, den fünften Sommer jetzt schon. Er konnte es sich immer noch nicht
verzeihen, dass er trotz Helenes böser Vorahnungen leichtsinnig dem teuflischen
Despoten in die Falle gegangen war. Wie hatte seine Frau ihn beschworen in der
letzten gemeinsamen Nacht.
‚Ich weiß nicht, wie mir ist, Christian. Fahr nicht mit dem
Amtmann nach Blaubeuren. Bleib in Ulm’.
Er setzte sich auf eine Mauer und wünschte, er könnte die Zeit
zurückdrehen, Helene würde neben ihm sitzen und er könnte den Kopf an ihre
Schulter legen. Hätte er nur dieses eine Mal auf sie gehört! Alles zu spät.
„Ich weiß nicht, wie mir ist, Helene“, schluchzte er und Tränen
rieselten in seinen Bart.
Als er eine Weile so gesessen und vor sich hingebrütet hatte,
hörte er Schritte. Ein großgewachsener Jüngling stapfte den Hügel hinauf und
kam auf ihn zu. Seine Haare glänzten rötlichgolden im Sonnenschein. Schubart
erkannte gleich das herzerfrischende Lächeln des Regimentsmedikus, Verfasser
der Räuber, mittlerweile bekannt bin
in den letzten Winkel.
„Schiller“, rief er. „Das ist eine Überraschung. Ist Er den langen
Weg von Stuttgart hierher gewandert?“
Der junge Mann setzte sich neben ihn auf die Mauer und wischte
sich mit dem Hemdärmel den Schweiß von der Stirn.
„Da staunt Er, was? Von der Wache habe ich erfahren, dass Er sich
am Belvedere aufhält, einen wirklich schönen Ausblick hat Er hier.“
„Aber keine Freude.“ Schubarts Stimme klang rau.
„Er sieht jetzt besser aus, als bei meinem Besuch im November.
Nicht mehr gar so grau im Gesicht“, fuhr Schiller fort.
„Er will mir nur schmeicheln. Aber Er weiß ja nicht, wie einem
Ausgestoßenen zu Mute ist. Ein kranker Mann bin ich. Zu schwach zum Leben, zu
schwach zum Sterben. Und Er? Man hört einiges Gemunkel.“ Fragend schaute
Schubart den jungen Dichter an.
„Er hat richtig gehört. Der Herzog hat mir verboten, künftig etwas
ohne seine allerhöchsteigenhändige Zensur drucken zu lassen. Dass ich ohne
Urlaub in Mannheim zur Aufführung der Räuber
war, ist ihm verraten worden, die Weiber können’s Maul nicht halten.“
„Schreiben darf Er aber noch?“
„Er schreibt keine Komödien mehr, hat Serenissimus gedroht.
Andernfalls lass ich Ihn auf die Festung setzen und Seinen Vater lass ich vom
Brot bringen.“
„Und was will Er jetzt tun?“
„Nun, in der Pfalz habe ich dergleichen nicht zu fürchten.“
„Was will Er denn damit sagen?“
„Er muss nur verschwiegen sein.“
„Aber Schiller.“
„Nun, da ist meine Bekanntschaft mit Dalberg. Ich habe Aussicht,
Theaterdichter in Mannheim zu werden.“
„Hofpoet. Dann könnte der fürstliche Landesvater Ihn ja entlehnen
wie den italienischen Hofpoeten kürzlich, eine Menge Gulden hat er dafür
gezahlt. Nur, dazu müsste Er nicht Schiller heißen, sondern Schilleri oder noch
besser Schillerieri.“
„Und französisch parlieren, nicht etwa deutsch wie ‚deutlich’“,
fiel Schiller ein. „Aber Scherz beiseite, mit dem Herzog ist nicht zu spaßen.“
„Selbst im Ausland ist Er vor nicht sicher vor Verfolgung. Schau
Er mich an.“
„Ach, Schubart, ich schau Ihn ja schon die ganze Zeit an. Das
Unrecht hier auf dem Asperg muss ein Ende haben. Seine Chronik, Er hat doch nur
die Wahrheit gesagt. Ein Meister des Wortes ist Er und hier eingekerkert und
mundtot gemacht. Alles gewagt hat Er. Sieh Er hier.“ Schiller zog ein
gedrucktes Schriftstück aus der Hemdtasche. Dann rezitierte er weit ausholend
mit großem Pathos in die liebliche Landschaft hinaus.
„Da liegen sie, die stolzen
Fürstentrümmer …“
„Die Fürstengruft“,
winkte Schubart ab. „Nichts als Ärger hat’s gebracht. Alles gewagt, alles
verloren.“
„Fürstentrümmer“, wiederholte Schiller mit
Nachdruck. „Ich trage sie überall bei mir. Der Tyrann in seiner Gruft. Nicht
nur Er hat diese Vision. Im ganzen Lande schätzt man seine Verse, nur die
Obrigkeit nicht. Das menschliche Herz muss siegen.“
Das menschliche Herz. Eine Weile hingen beide Männer ihren
Gedanken nach, bis der Gefangene unruhig wurde. Ein Wachsoldat war auf den Wall
gekommen und schaute in die Ferne. Mit zitternden Händen zog Schubart eine
silberne Taschenuhr aus der Rocktasche und hielt sie sich vor die Augen.
„Die Zeit ist um, lieber Freund, ich muss zurück hinter Schloss und
Riegel.“
Schiller reichte dem Älteren die Hand und half ihm beim Abstieg
auf den Festungswall. Langsam gingen sie im Schatten der hohen Mauern hinunter
zum Tor.
„Ich hoffe, dass ich Ihn recht bald wiedersehe, Schubart. Aber in
Freiheit. Wenn ich erst in Mannheim bin, sorge ich dafür, dass Er frei kommt.“
Das klang sehr zuversichtlich aus dem Munde des jungen Stürmers.
„Am besten schickt Er eine ganze Räuberbande auf den Asperg
herauf.“ Schubart lachte bitter. „Nein, nein, Schiller. Sieh Er erst einmal selber
zu, dass Er seine Haut rettet. Noch hat Er Träume.“
Lange hielten sie sich in den Armen, bis der junge Stürmer sich
abwandte und mit festen Schritten die Festung verließ.
(Die kursiv formatierten Textstellen sind Zitate aus Gedichten von
Christian Friedrich Daniel Schubart:
Kaplied, Der Gefangene, Frage, Die Fürstengruft)
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