(In
einer württembergischen Reichsstadt um 1770)
Nein, so konnte sie nicht weiter leben, das müsste der Vater
einsehen. Woher sollte er wissen, wie es ihr ergangen war in der Stadt? Tag und
Nacht diesen kränklichen Buben hüten. Er jammerte ständig und wich nicht von
ihrer Seite, keinen Schritt konnte sie ohne ihn tun. Auf ihrem Strohsack neben
seinem Bett bekam sie kaum Schlaf und hatte viele Nächte lang geweint. Heim
wollte sie, schon seit Wochen konnte sie an nichts anderes mehr denken, nichts
als heim.
Als Apollonia die hohen Stadtmauern verließ, lag vor ihr die weite
Ebene und in der Ferne ihr Dorf, dessen grüner Kirchturm schon zu sehen war.
Ihre Habseligkeiten trug sie im Leinentuch über der Schulter. Das Bündel war
nicht schwer, ein Sonntagsrock, ein wollener Umhang für kühlere Tage und eine
Haarspange hatte sie darin. In den Bäumen rechts und links des Pfades sangen
die Vögel fröhlicher als in den engen Gassen der Stadt. Hier roch es nach Erde
wie in den Eichenwäldern, in denen sie noch im vergangenen Sommer vom Sonnenaufgang
bis zum Abendläuten die Schafe ihres Vaters gehütet hatte.
Die Schafe, jetzt gab es keine mehr. Nachdem in jenem Jahr Schnee
bis in den Mai auf der Saat gelegen hatte, mussten sie den Gürtel noch enger
schnallen. Und auch dieser Sommer brachte keine Ernte. Die Pferde und Jagdhunde
des Herzogs und seines Gefolges waren über die Felder geprescht, hatten die
Frucht zertreten, mit einem Schlag die mühevolle Arbeit des Frühjahrs zunichte
gemacht.
An all das musste sie denken und je näher sie dem armseligen
Häuschen am Rande des Dorfes kam, desto langsamer wurden ihre Schritte. Was
würden sie daheim sagen? In Gedanken sah sie die Familie auf den Holzbänken um
den Tisch herum sitzen, in der Mitte die Schüssel mit Erdäpfeln, deren Inhalt
schon ohne sie nicht zum Sattwerden reichte. Die fragenden Gesichter der Brüder
und Schwestern, Tränen der Verzweiflung in den Augen der Mutter. Und Zorn auf
der Stirn des Vaters. Sie stellte sich vor, wie er schimpfen würde:
‚Was willst du hier? … Wir wissen doch so schon nicht, wie wir
über den Winter kommen sollen … du bist zu schwach für die schwere Arbeit auf
dem Feld und von deinem schönen Gesicht kriegen wir auch nichts zum Beißen auf
den Tisch …’
Die Sonnenstrahlen schienen nicht mehr ganz so hell durch die
Bäume und die Vögel sangen nicht mehr so fröhlich.
‚Sei froh, dass du in der Stadt ein Dach und Essen hast ... und so
leichte Arbeit … dummes Ding … dumm, dumm, dumm …’, so hämmerte es in ihrem
Kopf.
Die Beine wollten sie nicht mehr vorwärts bringen.
‚Lieber Gott im Himmel, hilf mir. Sag, was soll ich tun?’, betete
sie.
Nein, sie konnte nicht nach Hause. Der Vater würde sie schlagen
und alles würde nur noch schlimmer werden. Sie setzte sich unter einen Baum,
vergrub den Kopf in den Händen und weinte.
Mit hängenden Schultern trottete sie den langen Weg zurück zur
Stadt und noch vor dem Läuten der Abendglocken stand sie wieder in der
Kanzleigasse vor dem Haus mit dem prächtigen Erker. Durch die Hintertür schlich
sie hinein.
‚Wenn dieses Jammerbündel da oben in der Kammer nicht wäre, würde
die Herrschaft mich zum Teufel jagen, dann müssten die Eltern es einsehen’,
dachte sie voller Groll.
Die Hausherrin machte ihr wegen des Fernbleibens keine Vorwürfe,
hatte auch nichts zu fragen. Sie beachtete Apollonia genauso wenig wie vor der
missglückten Flucht. Sofort wurde sie zum kleinen Peter geschickt. Der hatte
weder gegessen noch getrunken und viel nach ihr gejammert. Nun bekam er auch
noch hohes Fieber. Sie allein musste ihn versorgen und konnte tagelang das Haus
nicht verlassen.
Endlich, an einem sonnigen Nachmittag, konnte sie wieder mit ihm
auf den Marktplatz gehen. Weil der Junge zu schwach zum Laufen war, trug sie
ihn auf dem Arm. Beim Wirtshaus wurden gerade Fässer von einem Pferdewagen
abgeladen und ein Bursche brachte auf einem zweirädrigen Karren Säcke in die
Backstube vom Bäcker Hirsch. Am Brunnen kreischten Kinder und hatten Spaß.
Eines trieb einen Reifen vor sich her und ein anderes ritt auf seinem
Steckenpferd immer wieder um das Wasserbecken herum.
„Schau, Peterle, sie spielen.“
Das Kind hob nur schwach den Kopf.
Ach, was sollte sie hier? So viele Leute, aber da war niemand, der
sie beachtete, kein Mensch, mit dem sie reden konnte. Und dann noch dieses
armselige Häufchen auf dem Arm, sie mochte das Jammerbild schon gar nicht mehr
ansehen, sah sie doch nur ihr eigenes Elend in seinem blassen Gesicht.
‚Eigentlich bist du ja ein armer Tropf“, sagte sie. „Du bist nicht
Schuld.“
Als sie ihm über den Kopf strich, schaute er sie mit großen Augen
an und lächelte.
Da spürte sie plötzlich, dass sie ihn gern hatte.
„Weißt du, Peterle, wir passen zusammen wie Pflänzchen, die
niemand gießt.“
Sie nahm seine Hand.
„Wir haben uns gefunden, wir zwei.“
Im Schatten der Kirche war die Werkstatt des Glasbläsers.
Apollonia blieb stehen und schaute durch das geöffnete Fenster hinein. Diesem
jungen Meister hatte sie schon oft bei der Arbeit zugesehen. Sie wartete auf
den Moment, in dem er mit sicherer Hand einen rot glühenden Riesentropfen aus
dem großen Steinofen holte. Dabei konnte sie jedes Mal ganz kurz seine Augen
sehen. Dann beobachtete sie, wie sich seine Wangen blähten und aus dem
zähflüssigen Klumpen langsam eine gläserne Kugel wurde. Darin sah sie sich
selbst mit Peterle auf dem Arm. Beim langen Hinschauen wurde das Bild immer
größer und plötzlich löste es sich und bewegte sich langsam hinaus. Als es an
ihr vorbei schwebte, schaute sie ihm nach, zum Kirchturm hoch und sah einen
goldenen Engel auf seinem Weg in den strahlend blauen Himmel.
„Magst du auch fliegen, Peterle?“
„Fliegen, Apollonia“, wiederholte er schwach.
*
Die Lindenwirtin hatte gerade die Öllichter angezündet und den
drei jungen Burschen aus der Müllerzunft einen Krug Wein auf den Tisch
gestellt, als Apollonia zögernd die Tür öffnete und langsam auf den Tresen
zuging.
„Meine Herrschaft schickt mich“, sagte sie mit leiser Stimme,
„eine Flasche Lindenwirts Roten soll ich holen.“
„Da warte einen Moment“, sagte die Frau freundlich.
Während Apollonia immer noch an der gleichen Stelle stand und
starr vor sich hinblickte, ging am Tisch der Müllergesellen der Weinkrug herum
und im Nu war ein lautes Gerede im Gange.
„Das sieht ja aus, als ob man die ganze Bürgerschaft für lauter
Giftmischer hielte, “ sagte einer.
„Den weisen Rat geht das überhaupt einen Pfifferling an. Es gibt
genügend Tränklein, die einen in den schwarzen Kasten befördern können“, meinte
ein anderer.
Giftmischer? Tränklein? Schwarzer Kasten? Was meinten die Männer?
Der Bursche mit dem hellblauen Wams klopfte mit der Faust auf den
Tisch.
„Die gestrengen Herren im Rat können alles verbieten, was sie
wollen, Rattengift oder Mausgift, hält sich ja doch kein Apotheker an das
Verbot. Ich geh zum Einhorn und für einen Kreuzer krieg ich, was ich brauch“,
brüllte er großspurig.
Einhorn? Apollonia fühlte an ihren Rockbund. Ein Kreuzer. Den
hatte sie im Beutel.
„Mädel, ist dir nicht gut?“, fragte die Lindenwirtin, als sie mit
der Flasche roten Wein aus dem Keller kam. „Du siehst so seltsam aus, so weiß,
und die Augen. Wo schaust du denn hin?“
„Nein, nein, es ist nichts
…“, antwortete Apollonia schnell, nahm die Flasche, eilte hinaus und lief sie
über den Marktplatz. ’Du musst es tun, du musst, musst …’, forderte eine Stimme
in ihrem Ohr. Sie stürmte in die Apotheke.
„Meine Herrschaft schickt mich. Für einen Kreuzer Mausgift“, sagte
sie drängend. Der Apotheker blieb arglos und schöpfte mit einem Hornlöffel
weißes Pulver aus einem Keramikgefäß.
„Hier hinein.“ Apollonia legte ein kleines Leinentuch auf den
Tisch. Der Mann ahnte nicht, welches Verhängnis er auslöste, als er den Löffel
auf dem Tuch ausleerte.
Außer Atem erreichte Appolonia die Kanzleigasse. Die Flasche
stellte sie in der Küche ab, nahm einen Zinnbecher vom Bord und füllte ihn mit
Milch. Rasch schüttete sie das Pulver hinein und lief in die Kammer zu dem
kranken Buben. Der wartete schon auf sie und lächelte schwach.
„Hier Peterle, trink das …“
Gierig trank das Kind den Becher leer.
„ Ja, gut so … du kannst jetzt fliegen … wir zwei kommen heim.“
Ein gellender Schrei störte die Gesellschaft im Salon und ließ die
erschreckten Eltern zu ihrem Kind eilen. Zum ersten Mal nach vielen Wochen
waren sie in seiner Kammer. Da war Peter schon verstummt. Bleich und still lag
er in seinem Bettchen.
„Diese Hexe war das. Wo ist sie? Ich schlage sie tot.“ Laut
zeternd rannte die Mutter im Hause herum.
Der Vater hob den Trinkbecher vom Boden auf und betrachtete ihn
lange.
„Wie konnte sie uns das antun mit ihrem unschuldigen Gesicht?“,
murmelte er.
Nach kurzer Suche fand man Apollonia in der Kammer hinter der
Küche. Dort hockte sie auf den Knien, von Weinkrämpfen geschüttelt, und drückte
den Kopf gegen die Wand.
„Er ist jetzt ein Engel und wir kommen beide heim “, schluchzte
sie.
Eine Woche war vergangen, als vom Marktplatz her im ganzen Ort
Trompetenklänge zu hören waren. An diesem Morgen arbeitete niemand in der
Stadt. Viele Menschen kamen herbei und versammelten sich im riesigen Schatten
der Kirche. Alle wollten dabei sein, als das schöne, blasse Mädchen mit
schneeweißem Gewand seine nackten Füße auf die Stufen setzte.
Aufrecht stand Apollonia auf dem Blutgerüst und alle warteten
gespannt auf den großen Moment.
Doch bevor sie niederknien, den Kopf senken, der Henkersknecht
ihre goldglänzenden Haare aus dem Nacken streichen, der schwarze Kapuzenmann
den Umhang ablegen und sein blankes Schwert darunter hervor holen, er dann auch
die Stufen besteigen, sich breitbeinig hinter das junge Blut stellen und mit
einer weit ausholenden, kraftvollen Bewegung das Urteil vollstrecken würde …
bevor all das geschah, ließ sie suchend ihren Blick durch die Menge schweifen.
Auch er war gekommen. In seiner Werkstatt war es still an diesem Tag. Sie
wartete auf den Moment, in dem sie seine Augen sehen konnte. Ganz kurz
begegneten sich ihre Blicke. Dann schaute sie hoch zum Kirchturm und sah einen
goldenen Engel auf seinem Weg in den strahlend blauen Himmel.
Ein helles Stimmchen erreichte ihr Ohr.
‚Magst du auch fliegen, Apollonia?’
„Fliegen, Peterle.“
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