Im Schatten der hohen Palmen, die
diesem Platz seinen Namen gegeben hatten, ging sie zum Palais von Bürgermeister
Denis. Auch an ihn und seine Vorträge über die Erkundung der hiesigen
pittoresken Landschaft würde sie sich gerne erinnern. Alphonse Denis hatte jahrelang
Geschichten, Bilder, Geschichten und Informationen über seinen Ort gesammelt.
Ein wunderbares Buch über Hyères, die Umgebung und die Inseln war daraus
entstanden, das ihnen im Hause Arnauld zur Verfügung stand. Im
Bürgermeisterhause wohnte Pauline. Sie kam aus Straßburg und hatte ebenfalls
den Winter in der Provence verbracht. Zusammen wollten die Freundinnen einen
Ausflug in die Berge machen, wie sie es oft getan hatten in den vergangenen
Monaten.
Durch das geöffnete Fenster drang Musik nach draußen, eine
Klaviersonate von Beethoven. Das war Pauline. Im Schatten einer Palme blieb
Malwida stehen und stellte sich vor, wie die Freundin mit unglaublicher
Leichtigkeit ihre Finger über die Tasten gleiten ließ. Klavierspielen war eine
der Leidenschaften dieser talentierten jungen Frau. Die Melodie klang nach
Abschied. Auch Pauline war in Abschiedsstimmung. Sie und ihre Schwester würden
auch bald dieses gastliche Haus verlassen und abreisen.
Erst als das Musikstück verklungen war, ging Malwida hinein
und ließ sich vom Hausdiener zu Pauline führen. Wie erwartet, saß die in
Gedanken versunken vor dem Klavier. So kannte sie dieses sensible Wesen.
Manchmal war die Freundin beim Musizieren so ergriffen, dass ihr Tränen über
das Gesicht liefen. Malwida verstand das gut, erinnerte sie sich doch an die
Zeit, als sie selbst achtzehn gewesen war, himmelhoch jauchzend, zu Tode
betrübt. Lieber war ihr die heitere Pauline. Die wanderte plaudernd neben ihr,
sammelte Pflanzen für ihre biologischen Forschungen und war immer auf der Suche
nach Motiven zum Zeichnen.
Vorsichtig näherte sie sich der Pianospielerin und strich
ihr sanft über die Schulter. Pauline schnellte herum und sprang auf. Sofort
erhellte sich ihr Gesicht. Die Freundinnen schlossen einander in die Arme.
„Lass uns keine Zeit verlieren. Es ist ein Frühlingstag wie
im Bilderbuch. Ich hole nur schnell Tasche und Sonnenhut aus meinem Zimmer. Wir
treffen uns vor dem Haus“, rief sie und lief zur Tür.
Die beiden Frauen schlenderten durch die Gassen der
Altstadt, vorbei an dem mächtigen runden Turm, überquerten den Marktplatz und
gingen hinaus aus der Stadt, wo der Weg auf den Burgberg führte. Mit großen
Steinen war er gepflastert und sehr holprig. Als sie eine Weile steil bergauf
gegangen waren, blieb Pauline stehen.
„Puh, ist das anstrengend“, hechelte sie, „fühle mal mein
Herz.“ Sie nahm Malwidas Hand und drückte sie an ihre Brust.
„Es pocht heftig, meine Kleine. Du brauchst eine Pause. Doch
die paar Meter bis zu unserer Nische schaffst du noch“, ermunterte die Ältere
und zog ihre Freundin hinter sich her, bis sie die Klostermauer erreicht
hatten, wo sie sich im Schatten der bogenförmigen Mauernische ausruhen konnten.
„Wie schön es hier wieder ist und so still, als sei nichts
geschehen“, sagte Pauline. „Kaum vorstellbar, dass hier noch vor einer Woche
ein Derwisch an der Pinie gezerrt hat, weißt du noch?“
„Sicher. Der Mistral gehört zu dieser Gegend wie Felsen,
Sand und Meer. Ich hatte auch Angst um den zierlichen Baum. Deshalb habe ich
ihn schnell gemalt.“
Sie holte ihr Skizzenbuch hervor und blätterte darin, bis
sie die Zeichnung gefunden hatte. „Hier siehst du das stürmische Intermezzo. Gut,
dass es Papier und Bleistift gibt.“ Sie blätterte weiter. „Und das da bist du,
Pauline. Wie dir der Sturm den Rock über den Kopf fegt.“
Sie lachten.
„Und das bist du auch“, fuhr Malwida fort, „am Bachufer
sammelst du Pflanzen.“
„Für mein Herbarium. Da hast du mich heimlich gemalt, du
kleine liebe Freundin. Du, jetzt juckt es mich in den Fingern. Lass uns auf
Motivsuche gehen“, schlug Pauline vor.
„Einverstanden“
Sie wanderten hoch bis zum alten Gemäuer der Burganlage von
wo sie in der südlichen Richtung das Meer mit den Inseln sahen und nach Osten
hin endlos scheinende Bergketten.
Was hältst du von diesem Blickwinkel?“, fragte Malwida und
zeigte auf die weite Ebene mit einem von Zypressen und Laubbäumen gesäumten
Flusslauf, einer Kirche zwischen vereinzelten Häusern, idyllisch eingebettet
vor der Kulisse des Massivs.
„Ausgezeichnet“, bestätigte die Freundin.
Auf einer Mauer ließen sie sich nieder und packten ihre
Zeichensachen aus. Malwida hatte eine
Idee. Sie legte ihr Skizzenbuch der Freundin in den Schoß.
„Heute machen wir es einmal
ganz anders. Du zeichnest in mein Buch und ich in deines. Dann hat jede eine
schöne Erinnerung an diesen Tag und all die gemeinsamen Tage vorher.“
Den Vorschlag fand Pauline ausgezeichnet und so zauberte jede Strich für Strich mit spitzem Bleistift das unbeschreibliche Panorama in das Buch der anderen.
‚Erinnerung an gemeinsam verbrachte Stunden in Freiheit und Liebe’, schrieb Malwida unter das ihrer Weggefährtin gewidmete Bild.
Den Vorschlag fand Pauline ausgezeichnet und so zauberte jede Strich für Strich mit spitzem Bleistift das unbeschreibliche Panorama in das Buch der anderen.
‚Erinnerung an gemeinsam verbrachte Stunden in Freiheit und Liebe’, schrieb Malwida unter das ihrer Weggefährtin gewidmete Bild.
Auch Pauline schrieb eine Widmung unter ihr Werk:
‚Dort erhebt sich niemals Lärm….
Seinen Traum kann man träumen,
bis er endet
und ihn dann von vorne beginnen,
4. Mai 1845, P.’
Jede sah sich noch einmal die gesamte Bildersammlung der
anderen an und ließ die provençalische Winterreise an sich vorbeiziehen. Dann
tauschten sie die Bücher zurück und blieben schweigend nebeneinander sitzen,
bis die Sonne sich schon zur Felsspitze hinuntersenkte.
„Kann eine Landschaft schöner sein? Berge, Täler und
herrliche Gärten bis zum Meer. Ich kann mich gar nicht satt sehen“, begann
Malwida.
„Die Sonne geht im Meer auf und in den Bergen unter. Das
fällt mir jetzt erst auf. Traumhaft schön ist es hier oben, ich könnte ewig so sitzen
bleiben“, schwärmte auch die Jüngere.
„Das Zusammenspiel von Formen, Farben und Licht, gerade zu
dieser Stunde der tief stehenden Sonne. Genauso wie mein Lehrer es beschrieb“,
erinnerte sich Malwida. „Jetzt erst verstehe ich, was Carl Morgenstern damit
gemeint hat, das Schweben in der einzigartigen Landschaft, als wären wir selbst
ein Teil davon. Wäre er doch jetzt hier! “
„Schweben in der Landschaft. Das hört sich gut an. Er muss
ein faszinierender Lehrer sein. Du hast eine Menge von ihm gelernt.“
„Stimmt. Einige seiner Gemälde haben mich so gefesselt, dass
ich sie unter seiner Anleitung nachgemalt habe. Terraccina zum Beispiel, mein
Lieblingsbild von ihm.“
„War Carl Morgenstern auch hier in Südfrankreich zum Malen?“
„In Italien war er, aber die Landschaften auf seinen Bildern
sind dieser hier sehr ähnlich. Felsen, Meer und Weite, Kompositionen in Orange-
und Violetttönen, wie es sie in unseren nördlichen Gegenden gar nicht gibt.“
„War er nur dein Lehrer oder hat er dir mehr bedeutet?“
„In Frankfurt hatte ich einen Winter lang Unterricht bei ihm.
Im vergangenen Jahr war das. Die Stunden hatte ich meinem Vater abgetrotzt. Von
den Ölfarben habe ich ihm nichts erzählt. Für die habe ich eine goldene Kette
und noch anderen Schmuck verkauft.“
„So etwas macht man doch nur, wenn man sich etwas ganz stark
wünscht. Warst du in Carl Morgenstern verliebt?“
„In der Familie wurde gemunkelt. Du kennst das vielleicht,
Pauline. Die Verbindung zu einem Maler hätte man nicht gern gesehen. Brotlose
Kunst nannte man seine Arbeit.“
„Ja, ja, das kenne ich. Doch erzähl weiter.“
„Oft habe ich meinen Malerfreund im Stillen beobachtet in seinem
Atelier auf der Zeil, wenn er an der Staffelei stand, in seine Arbeit versunken,
ein schöner Mann. Ein bisschen war ich verliebt in ihn. Aber jetzt ist es
vorbei.“
Pauline legte den Arm um Malwidas Schultern und drückte sie
fest an sich.
„Und dann?“
„Und dann?“
„Es gibt nicht mehr viel. Ich bewunderte ihn. Ja, ich mochte
ihn sehr. Der Abschied tat weh, als ich mit Mutter und Schwester zurückkehren
musste nach Detmold. Von dort habe ich ihm einmal Skizzen geschickt und er hat
mir per Brief Ratschläge gegeben.“
„Konntest du nicht in Frankfurt bleiben?“
„Das hätte mein Vater niemals erlaubt, Pauline. Niemals.“
„In Detmold hast du weiter gemalt.“
„Manchmal bin mit Malutensilien in der Tasche hinauf
gewandert in den Palaisgarten, wo ich einen schönen Blick auf Stadt und
Umgebung hatte.“
„Na, siehst du.“
„Beim Malen fehlte er mir sehr.“
„Wer? Ach ja, dein Morgenstern“, scherzte die Freundin.
„Jetzt bist du mein Abendstern, Pauline“, entgegnete Malwida
lachend. „Schau mal, wie tief die Sonne steht.“
Aus: Malwida und der Demokrat
Aus: Malwida und der Demokrat
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