Da stand sie nun zwischen Felsriesen und Gletscherspalten
und einer Sicht gleich Null. Nicht einmal den Liftmann konnte sie erkennen, der
ihr sonst immer beim Ausstieg geholfen und den kleinen Wildfang einen Moment
lang am Arm gehalten hatte. Jetzt hielt sie das Kind an der Hand, es schaute zu
ihr hoch, nichts mehr von Schalk in seinen blauen Augen, die sie sonst immer
unternehmungslustig anblitzten. Da war nur Angst in seinem Blick. Warum hatte
sie ihm nur wieder nachgegeben und war noch einmal hoch gefahren in dieser
Panoramabahn, die im Moment alles andere als Panoramen bot? Hätte sie sich
nicht denken können, dass sich um die späte Nachmittagszeit in diesen Höhen
schnell etwas zusammenbraute? Da war aber wirklich nichts mehr zu sehen. So ein
Mist, ein richtiger Nebelmist. Sollte der Vater denn wieder recht behalten? War
sie zu nachgiebig? Deine Erziehung, hörte sie ihn sagen. Du kannst dich nicht
durchsetzen, der Junge tanzt dir auf dem Kopf herum bei ihm wäre er besser
aufgehoben.
Ja, ja, ja.
Ja, das hatte sie sich selbst eingebrockt und musste nun
zusehen, wie sie das Söhnchen heil die Piste hinunter bekam. Ruhe bewahren,
sagte sie sich, obwohl ihre Knie zitterten.
„Mama, wo sind wir?“
„Auf der Piste, Nikki.“
„Wo ist die Piste, Mama?“
„Gute Frage. Wir stehen darauf aber wir sehen sie nicht,
weil sie in einer Wolke verschwunden ist.“
„Wolken sehen aber anders aus.“
„Nikki, wir sind jetzt mitten drin in der Wolke und das
nennt man Nebel.“
„Nebel kenn ich doch. Okay, und jetzt?“
„Skier an die Füße, Stöcke in die Hand und runter fahren.“
„Ich seh nix.“
„Ich auch nicht. Bleib einfach ganz dicht hinter mir.“
„Mach ich.“
Langsam fuhr sie los, Pflugbogen um Pflugbogen und hörte,
wie Nikki hinter ihr mit seinen kleinen Skiern Kurve für Kurve den Schnee weg
schob. Das lief ja gut. Keine Diskussion mehr. Wenn es drauf ankam, konnte sie
sich auf ihren kleinen Wildfang verlassen.
„Guck mal, Mama, da hinten ist ein Haus mit ganz viel Schnee
drauf“, rief er plötzlich.
„Ein Felsen ist das, da müssen wir höllisch aufpassen, damit
wir nicht zu nahe herankommen“, rief sie zurück und in dem Moment, als sie sich
umdrehte, zog es ihr die Beine weg. Wie in Watte rutschte sie in den weichen
Schnee, rutschte und rutschte in diesem endlosen Weiß, glaubte zu schweben, bis
ein Schleier ihr Gesicht streifte. Sie öffnete die Augen. Undurchdringliche
Dunkelheit umgab sie, schnürte sie ein. Sie riss die Augen weit auf. Was war
geschehen? Jedenfalls stand sie auf ihren Beinen. Sie wollte schreien. Doch es
war so still. Wo war sie? Wo war Zurück? Bewegen? Wohin? Auf zittrigen Beinen
stand sie, geduckt, als könnte sie an etwas Hartes stoßen, horchte. Nichts.
Vorsichtig richtete sie den Oberkörper auf. Beim Kopfdrehen spürte sie einen leichten
Luftzug. Schwankte sie? Ha! Was berührte sie da? Sie wollte sich wehren. Doch
wie? Gegen wen? Ein Hauch. Etwas Leichtes auf ihrer linken Schulter. Sie tastete
danach. Ein Wesen. Ein Mensch. Eine Hand fühlte sie. Nie war eine Hand so warm.
Einen Moment lang spürte sie Erleichterung und hielt die Hand fest umklammert.
„Ich sehe nichts. Wer bist du?“
„Ich bin Lilian.“
„Hier ist es so dunkel, ich will zurück.“
„Es gibt kein Zurück, Phillis. An die Dunkelheit wirst du
dich gewöhnen. Ich zeige dir den Weg hinein in diesen wunderbaren Palast.“
Mühsam setzte Phillis den Fuß vor und bewegte sich Schritt
für Schritt tastend in der Finsternis, Lilians Hand immer noch fest umklammert.
„Wo bin ich?“
„Beim großen Gangano.“
„Gangano?“
„Der berühmte Prinz der Lüfte, Herr über den Eispalast.“
„Und mein Kind?“
„Nikolas ist bei Ganganos Söhnen. Er ist jetzt ein Luftprinz
wie sie.“
„Wie sind wir hierher gekommen?“
„Dein Kind hat das Zeichen in den Augen. Alle Jungen mit dem
blauen Zeichen kommen in den Palast des großen Gangano.“
Am Horizont war ein bläulicher Schimmer zu sehen. Hatten sie
die Dunkelheit überwunden? Phillis schaute nach links und sah in Lilians junges
Gesicht. Nie war ein Lächeln so tröstlich. Langsam näherten sie sich dem blauen
Licht.
„Da sind Ganganos Söhne.“
Phillis schaute in einen Raum, von unten her blau
beleuchtet. Es mochten wohl mehr als zehn kleine Jungen sein, die da
bewegungslos saßen. Leuchtend blaue Augen in fahlweißen Gesichtern. Dunstschwaden
verbreiteten einen süßlichen Geruch.
„Nikki“, rief Phillis, als sie ihr Kind erblickte.
„Mama, ich fliege.“
Dann verschwamm sein Gesicht hinter ihren Tränen und sie
wurde weiter gezogen.
„Lass ihn, er gehört jetzt zu ihnen.“
Lilian brachte sie in einen weiteren Raum, auch dieser schwachblau
von unten beleuchtet.
„Dies ist das Reich der Frauen. Hier wirst du wohnen, wie
alle Mütter der Jungen. Sie feiern und bewundern den großen Meister, ihre
einzige Aufgabe.“
Ein blaues Gewand schwebte herunter, direkt auf Phillis zu.
„Nimm es. Das bedeutet, der Meister hat dich gerufen und
will dich sehen. Bereite dich auf die große Inszenierung vor. Zieh das Kleid
über, dann gehen wir los. Komm, ich helfe dir.“
Lilian streifte ihr das Kleid über und nahm sie an die Hand.
„Halt, eine Frage noch, Lilian.“
Sie blieben stehen.
„Wie komme ich zurück in meine Welt?“
„Es gibt keine andere Welt. Niemand kann den Ring der
Finsternis überwinden. Alle, die es bisher versucht haben, sind im Kreis
gelaufen. Wenn sie Glück hatten, wurden sie von den weißen Elfen eingefangen
und zurück gebracht. Die meisten wurden jedoch nie mehr gesehen.“
Kein Zurück? Das konnte sie nicht glauben. Sie war hierher
gekommen und sie würde auch wieder hinaus kommen. Ehe sie den Gedanken zu Ende
dachte, befanden sie sich im riesigen Rund einer Halle, angeordnet wie eine
Arena, nur umgekehrt. In der Mitte führten unzählige Treppenstufen hinauf in
schwindelnde Höhen. Über einer Bühne wölbte sich eine weiße Kuppel mit unendlichen
Ausmaßen. Auf der obersten Treppenstufe lagerte eine Gruppe kleiner Jungen. Die
Kinder kauerten zusammen und schienen zu schlafen. Phillis meinte Nikolas unter
ihnen zu entdecken. Sie wollte zu ihm gehen, doch Lilian hielt sie zurück.
„Lass ihn, Phillis, er gehört jetzt ihm und du gehörst
hierher, in die Schar seiner Bewunderinnen.“
Nein, nein, nein, dachte Phillis. Sie schaute nach links und
nach rechts. Frauen in blauen Gewändern hatten sich vor den Stufen versammelt
und blickten unentwegt nach oben, wo Elfen mit weißen Masken hoch in den Lüften
schwebten.
Als eine dröhnende Stimme ertönte, bebte der Eispalast.
„Jetzt kommt der große Gangano.“
Eine Weile war es ganz still. Dann schwebte ein riesiger
Mann mit weißem Umhang herein und schritt auf die Bühne. Phillis spürte einen
eisigen Hauch, als er hinunter schaute und sein Blick zuerst über die Gruppe
der Jungen, dann über die Schar seiner Bewunderinnen hinweg wanderte.
„Der große Gangano, Herr über die Lüfte“, dröhnte es wieder.
Weiße Tänzer wirbelten um das Eismonster herum und verneigten
sich immer wieder. Klirrende Töne sprangen durch die Luft wie kleine Blitze.
Gangano bewegte sich zuckend und begann einen Tanz, so wild, dass der gesamte
Eispalast vibrierte.
„Der große Gangano, gefeiert und bewundert“, hallte es unter
der Kuppel. „Gefeiert und bewundert.“
Die Frauen fielen auf die Knie, auch Lilian. Gefeiert und
bewundert? Nicht von allen. Phillis blieb stehen und schaute in das Gesicht des
eisigen Riesen, fixierte seine blauen Augen. Seine Verachtung traf sie wie tausend
kleine Eiszapfen. Sie wollte zurückweichen, nahm aber allen Mut zusammen und
blickte das Eismonster unentwegt an, obwohl sein eiskalter Blick schrecklich
schmerzte. Es gelang ihr sogar, ein Zucken der Augenlider zu unterdrücken. Gangano
erstarrte. Klirrend zerschellte sein weißer Umgang, ein Haufen Eisscherben lag
zu seinen Füßen. Wie klein er plötzlich war, als er nackt da stand. Eine
winzige Figur auf der großen Bühne unter der gewaltigen Kuppel. Dann war er
ganz verschwunden. Die weißen Tänzer schwirrten noch eine Weile wild
durcheinander und verschwanden einer nach dem anderen. Auch Lilian und die
anderen Frauen waren nicht mehr zu sehen.
Phillis stand allein am Fuße der Treppe und wartete noch
einen Moment in der atemlosen Stille. Als nichts mehr passierte, ging sie
unzählig viele Stufen hoch, bis sie endlich oben bei den Jungen ankam. Nikolas
lag mitten unter ihnen. Sie beugte sich zu ihm hinunter und küsste ihn auf die
Stirn. In dem Moment schlug er die Augen auf und lächelte sie an.
„Mama.“
„Das Eismonster ist besiegt, Nikki. Wir müssen hinaus. Bleib
schön dicht bei mir.“
Stufe für Stufe stiegen sie hinunter und verließen die Halle
durch einen bogenförmigen Ausgang. Auch hier war niemand zu sehen. Es zog sie
in einen Gang, bläulich beleuchtet. Außer dem leisen Scharren ihrer Füße war
nichts zu hören. Plötzlich streifte ein schwarzer Schleier ihr Gesicht und im
gleichen Moment umgab sie undurchdringliche Schwärze. Wo war oben und unten?
Sie stand nicht mehr auf ihren Beinen, konnte sich nicht halten, rutschte
endlos lange, bis sie liegen blieb.
„Nikki, wo bist du?“
„Hier bin ich, Mama“, hörte sie aus der Ferne. Dann ganz aus
der Nähe: „Ist alles in Ordnung bei dir, Mama?“
„Ich glaub schon.“
„Steh auf, ich helfe dir.“
Er hielt ihr seine kleine Hand hin und zog mit aller Kraft,
bis sie sich endlich aufgerappelt hatte.
„Ich hab nichts mehr gesehen“, sagte sie.
„Da hat’s dich geschmissen, direkt vor dem Felsen, schau
dort. Ich bin hinter dir hergeflitzt und weiß, wo deine Skier sind, hab’s genau
gesehen.“
Er klickte seine Schuhe aus der Bindung und stapfte durch
den tiefen Schnee. Dann buddelte er ihre Bretter eins nach dem anderen aus und
stellte sie nebeneinander, damit sie besser einsteigen konnte.
„Warte mal, heb mal die Beine an“, sagte er noch und klopfte
mit seinen Skistöcken Schnee- und Eisklumpen unter ihren Skischuhen ab, erst
beim einen, dann beim anderen, wie sie es sonst immer bei ihm tat. „Es ist
nicht mehr so neblig. Schau, da drüben ist eine Spur. Da ist gerade ein
Snowboarder lang gefahren. Die Spur nehmen wir, Mama. Zuerst fahre ich ein
Stück vorweg, dann du, immer abwechselnd.“
„Es war ein Fehler, noch einmal mit dir die Panoramabahn
hoch zu fahren, Nikki, das war sehr unvernünftig.“
„Mama, ich wollte es doch unbedingt. Und unten war das
Wetter doch noch ganz schön. Konnten wir wissen, dass man oben nichts mehr
sieht? Du hattest mir doch gesagt, ich soll immer ganz dicht hinter dir
bleiben. Und das hab ich gemacht.“
„Ja, das hast du, obwohl du doch beim Hochfahren in der
Gondel gar nicht abwarten konntest, bis du hinuntersausen konntest. Ich konnte
mich voll auf dich verlassen. Aber der Nebel wurde doch zu stark.“
„Und da ist es auch dir mal passiert, Mama. Ist doch alles
gut gegangen. Ich hab auf dich aufgepasst. Du passt doch auch immer auf mich
auf und hilfst mir, wenn’s mich in den Schnee schmeißt.“
„Hast ja Recht, mein Söhnchen. Komm, lass dich drücken.“ Sie
zog den kleinen Kerl an sich und gab ihm einen Kuss. „Wir müssen los, bevor es
noch dunkel wird. Ich bin bereit zur Abfahrt. Steig ein, doch warte, deine
Skischuhe.“ Jetzt klopfte sie ihm Schnee und Eis ab und er stieg in die
Bindung. „So, nun zeig mir den Weg, du Großer.“
„Alles klar, Chef“, rief er noch, bevor er seine kleinen
Skier in die Snowboardspur lenkte.
Foto © Renate Hupfeld
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