Achtundvierziger
(Mit der
Zeitmaschine aus der Zukunft in das Jahr 1848)
Nebelschwaden waberten über den See und tauchten die kahlen Bäume der Uferpromenade in ein diffuses Novembergrau. Wir gingen den alten Leinpfad entlang, auf dem zu früheren Zeiten Pferde geführt wurden, um die Schiffe flussaufwärts zu ziehen. Der richtige Tag, um eine Reise in den Frühling zu machen. Mein Ziel war Frankfurt an einem Märztag zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, Krönung der Recherchen für meinen Roman, in dem es um die Liebesgeschichte eines Abgeordneten der Nationalversammlung mit einem Mädchen aus dem Volke gehen sollte. Würde ich sogar den einen oder anderen Protagonisten des Jahres 1848 treffen, vielleicht Robert Blum davor warnen nach Wien zu gehen oder Friedrich Hecker zu mehr Vorsicht raten?
Nebelschwaden waberten über den See und tauchten die kahlen Bäume der Uferpromenade in ein diffuses Novembergrau. Wir gingen den alten Leinpfad entlang, auf dem zu früheren Zeiten Pferde geführt wurden, um die Schiffe flussaufwärts zu ziehen. Der richtige Tag, um eine Reise in den Frühling zu machen. Mein Ziel war Frankfurt an einem Märztag zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, Krönung der Recherchen für meinen Roman, in dem es um die Liebesgeschichte eines Abgeordneten der Nationalversammlung mit einem Mädchen aus dem Volke gehen sollte. Würde ich sogar den einen oder anderen Protagonisten des Jahres 1848 treffen, vielleicht Robert Blum davor warnen nach Wien zu gehen oder Friedrich Hecker zu mehr Vorsicht raten?
Jannis begleitete mich auf dem Weg zum Check-in im Seaside Center.
Er hatte mir diese Reise zum dreißigsten Geburtstag geschenkt. Hand in Hand
stapften wir durch die raschelnden Blätter.
„Wer hätte gedacht, dass sich die Technik so rasant entwickeln
würde?“, sinnierte er. „Hast du gar keine Angst, Maleen?“
„Bisher ist doch noch jeder in seine Zeit zurückgekehrt.“
„Ganz wohl ist mir nicht bei dem Gedanken, dass du diese Reise
allein machst. Es waren unruhige Zeiten damals. Ein falsches Wort kann böse
Folgen haben.“
„Mein ängstlicher Liebling. In jenen Märztagen war die Stimmung in
Deutschland so entspannt wie danach lange nicht mehr. Sei unbesorgt. Im Übrigen
bin ich keine Revolutionärin.“
„Sondern eine junge Frau aus dem Volke, ich weiß. Dennoch kann es
ohne männliche Begleitung gefährlich werden. Sei nicht zu…ich meine…“
„Kokett? Wo denkst du hin?“
Wir erreichten das Time Travel Terminal im Seaside Center.
„Machs gut, Maleen. Ich warte hier im Café auf dich.“
„Wenn dir langweilig wird, kannst du in der Zeitkapsel unter
geriatric32 nachlesen, wie meine Großmutter die Erfindung des World Wide Web
erlebt hat, 1994 war das.“
„Mach ich, Liebes, schon allein, weil du in dem Jahre geboren
bist.“
Janis drückte mich an seine Brust, langer Abschiedskuss, heftiges
Herzklopfen.
„Ihr Time Train geht in fünfundvierzig Minuten“, sagte die Dame
und gab mir einen silbern glänzenden Chip, ‚ttt’ stand darauf.
„Ich bringe Sie in die Zeitschleuse“, sagte sie und führte mich in
einen Raum, der wie die Umzugskabine einer Sporthalle wirkte. „Passende
Kleidung finden Sie auf dem Kleiderständer. Verschließen Sie Ihre Sachen
einschließlich Geldbörse, Armbanduhr und Communicator in dieser Box.“ Sie
wünschte mir noch eine gute Reise und ließ mich allein.
Nachdem ich mich ausgezogen hatte, streifte ich zunächst eine
weiße Leinenunterhose und ein Unterhemd über, ein bisschen groß, aber ich würde
mich daran gewöhnen. Den langen braunen Rock hielt ich mit einem Gürtel auf der
Hüfte. Darüber zog ich eine hübsche beigefarbene Leinenbluse und drapierte mir
ein großes hellblaues Tuch um die Schultern. Die Box verschloss ich mit dem
Chip und verließ mit Knöpfstiefeln an den Füßen die Zeitschleuse durch die
andere Tür.
In diesem Raum wartete ein Mann mit ‚ttt’ Plakette an der Brust
auf mich. Er überprüfte mein Outfit und war sichtlich zufrieden. Dann gab er
mir einen kleinen Lederbeutel mit Schnüren und eine wunderbare altertümliche
Taschenuhr.
„Dieses Gerät zeigt nicht nur die Uhrzeit an, sondern es ist auch
ihr Navigationssystem für die Reise“, erklärte er.
Als ich meinen Chip in den Schlitz an der Seite des Uhrgehäuses
steckte, leuchtete das Display auf. Ich befestigte den Lederbeutel am Gürtel
und ließ die Uhr hineingleiten.
„Sind Sie bereit?“
„Ja“, antwortete ich mutig.
Er führte mich durch einen schmalen Gang, der in einer schwach
beleuchteten Kabine endete, gerade groß genug für den schwarzen Sitz mit hohen,
steilen Lehnen. Wie ein Käfig sah das Ding aus. Ich setzte mich hinein.
„Achtung!“ Im gleichen Moment wurde ich so heftig eingezwängt,
dass ich mich keinen Millimeter mehr bewegen konnte. Meine Arme, Schultern und
Beine wurden mit ruckartigen Bewegungen von allen Seiten fixiert. Unerträglich
eng war es. Ich fürchtete eingequetscht zu werden. Dann bekam ich auch noch
etwas über den Kopf gestülpt, das sich anfühlte wie ein Motorradhelm und sich
langsam so eng um meinen Schädel schloss, dass es ihn zu zerdrücken drohte. Panik
machte sich breit, das Atmen fiel mir schwer. Ich konnte nur noch den Mund
bewegen und die Augen rollen, was ich auch ständig machte. Wie sollte ich hier
jemals wieder heraus kommen? Ehe ich noch weiter darüber nachdenken konnte,
begann der Sitz zu vibrieren, erst sachte, dann immer heftiger. Die Vibration
ging in eine Drehbewegung über, rasend schnell rotierte ich, begleitet von
psychedelischem Flackern in unbeschreiblich schneller Folge. Als ich dann auch
noch wie in einer rasanten Achterbahnfahrt steil hinauf und im freien Fall
hinunter befördert wurde, bei gleichzeitig unglaublich schneller Rotation,
immer wieder, endlos lange, wurde mir kotzübel.
Eine Hand streckte sich mir entgegen und half mir hinaus. Ich
konnte kaum stehen.
„Alles okay?“ Die Stimme gehörte zu einem gut aussehenden Mann mit
dunklen, halblangen Haaren und ttt-Anstecker.
„Geht schon.“
„Folgen Sie den Anweisungen auf dem Display, dann kann nichts
schief gehen.“
Der Ausgang führte in ein Dickicht aus Sträuchern und Bäumen. Nach
einer halben Stunde verließ ich den Waldpfad und stand auf einer Anhöhe.
Meine Augen gewöhnten sich langsam an die helle Morgensonne.
Frühlingsgrüne Wiesen und blühende Bäume breiteten sich vor mir aus. In einiger
Entfernung lagen links und rechts des Flusses die Häuser der Stadt Frankfurt.
Die beiden Ufer des Mains waren verbunden durch die majestätische Steinbrücke
mit der markanten Bogenreihe, wie ich sie von historischen Abbildungen kannte.
Auf dem Fluss wimmelte es von Dampfschiffen, Segelbooten und Kähnen. Menschen
pilgerten von Anlegestellen her hinauf in die Stadt, wo der mächtige Turm des
Domes in den strahlend blauen Himmel ragte.
‚10:16’, stand auf dem Display und darunter: ‚Jetzt haben Sie
sechs Stunden und 44 Minuten zu Ihrer freien Verfügung’.
Siebzehn Uhr musste ich also zurück sein. Nachdem ich die
Taschenuhr im Lederbeutel verstaut hatte, ging ich in östlicher Richtung auf
einem holprigen Pfad und erreichte die ersten prächtig geschmückten Häuser. Es
war eng auf dem Kopfsteinpflaster der Straßen und Gassen. Ich bewegte mich
mitten im Strom der Menschen, wurde eingehakt, freundlich angelächelt und
einfach mitgezogen. Die Stimmung war überwältigend. Freiheit lag in der Luft,
Freude auf den Gesichtern.
Wir erreichten den Platz vor dem Römer. An den imposanten Gebäuden
wehten schwarzrotgelbe Fahnen im Sonnenschein. Hier standen die Männer der
Nationalgarde in ihren blauen, gold geschmückten Uniformen und die Jungen der
Turnergarde ganz in Weiß mit breitkrempigen Hüten, bereit zum Spalier für den Zug
der Abgeordneten.
Ich ließ mich mit treiben in Richtung Paulskirche, wo die klügsten
Köpfe des Volkes für Demokratie und Pressefreiheit kämpfen würden. Vor einer
Art Holzbühne versperrte mir eine Ansammlung von überwiegend jugendlichen
Zuhörern den Weg. Ihre Augen hingen am Mund eines Redners, der mit seinen
langen blonden Haaren und den ausdrucksvollen Augen nicht nur glänzend aussah,
sondern mit einem Feuer sprach, dem auch ich mich nicht entziehen konnte.
„Er sieht aus wie Christus“, sagte eine Frauenstimme hinter mir.
„Hecker ist der Beste. Hecker, Hecker“, rief einer und alle
stimmten ein.
„Das Heckerlied …“, tönte es in der Menge und im Nu war ein
gemeinschaftlicher Gesang im Gange.
Eine Mandoline ertönte dazu.
Bei der zweiten Strophe konnte ich den Refrain mitsingen:
„Er hängt an keinem Baume,
Er hängt an keinem Strick,
Sondern an dem Traume
Der deutschen Republik.“
Viele begannen wie wild zu tanzen. Eine junge Frau nahm meine
Hände und ich wirbelte glücklich mit, immer rundherum. Lauter wurde der Gesang,
schneller der Takt. Es war wie ein Sog, der mich unwiderstehlich mitriss. Wir
bekamen nicht genug vom Singen und Tanzen.
Urplötzlich durchfuhr es mich wie ein Blitz: Mein Lederbeutel war
verschwunden. Ich erstarrte, suchte hektisch mit den Augen den Boden ab,
befühlte Rock und Gürtel. Nichts.
„Was hat dir denn den Tanz vergällt?“, fragte ein junger Bursche
mit Federhut.
„Mein Lederbeutel…verschwunden und meine...“
Er half mir beim Suchen und ging sogar mit mir den mühsamen Weg
gegen den Menschenstrom zurück zum Römerberg. Es war aussichtslos. Wie sollte
ich in diesem Gewirr von Beinen und Füßen mein Navigationsgerät finden? Die
ganze Zeit redete der Federhütler auf mich ein, doch ich reagierte gar nicht
mehr und irrte weiter durch die Menge.
Was sollte ich nur tun?
Wie von fremder Hand gezogen, ging ich den Weg aus der Stadt
hinaus. Dabei suchte ich unentwegt den Boden ab. Das verdammte Ding blieb
verschwunden.
Die Sonne stand schon im Westen, als ich die Anhöhe hinaufging.
Der Wald schien undurchdringlich. Ohne Orientierungshilfe würde ich niemals den
Weg zurückfinden. Und kein Mensch weit und breit konnte mir helfen. Ich setzte
mich auf einen Baumstamm und weinte.
Jemand klopfte mir ungeduldig auf die Schulter. „Hallo“, klang es
hektisch an mein Ohr. Ich schaute hoch. Es war der hübsche Dunkelhaarige vom
Timetrain, bekleidet mit brauner Hose und Leinenhemd.
„Hier, nehmen Sie.“ Er drückte mir meinen verlorenen Schatz in die
Hand. „Kommen Sie schnell. Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es.“
Wir hetzten los und atemlos erzählte er, wie ein Alarmsignal bei
ihm angekommen und er in die Stadt gerannt wäre. Sein Navigationsgerät hätte
ihn zu einem Burschen mit Federhut und meiner Taschenuhr in der Hand geführt.
Plötzlich hätte das Ding so heftig vibriert, dass er es auf den Boden
geschmissen und mit schreckgeweiteten Augen angestarrt hätte. Danach wäre der
Bursche weggerannt.
„Und du konntest nicht verhindern, dass der böse Friedrich drei
Wochen später in die Fänge seiner Verfolger geriet?“, fragte Jannis, nachdem
ich ihm von meiner wunderbaren Rettung erzählt hatte.
„Hecker meinst du. Daran habe ich gar nicht mehr gedacht. Ohne
Chip war ich nur noch verzweifelt“, musste ich beschämt zugeben.
„Man kann dich wohl doch nicht alleine so eine Reise machen
lassen, Maleen“, meinte er. „Wenn du deinen Achtundvierziger Roman im Netz
hast, reisen wir gemeinsam in die Neunundachtziger: ‚Wir sind das Volk’.“
(Die kursiv formatierten Textstellen sind Zitate aus dem
„Heckerlied“, überliefert aus dem Jahre 1847.)
Aus der Sammlung: Wenn wir von Liebe reden
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