Dienstag, 19. Juni 2018

Am Strand


Wie linkisch der Bengel ihn aus den Augenwinkeln ansah. Kalt wie seine Mutter. In allen seinen Bewegungen war sie. Wie er Roberts Bierflasche fixierte. Ja, das war sie. Ihr abschätzender Blick. Womöglich führte der Mistkerl Buch über seinen Alkoholkonsum und berichtete ihr dann. Nicht zu glauben. Hatte er den zerknautschten Winzling nicht gleich nach der Geburt gewickelt und ihm das kleine Jäckchen angezogen? Vor neun Jahren? Den Namen ausgesucht? Paul, der kleine Panther? Jahrelang herumgeschleppt, ihm das Laufen beigebracht, ihn an die Hand genommen und ihm alles erklärt? Und jetzt? Aus Spaßkämpfchen war bitterer Ernst geworden und das tat verdammt weh.
Robert drehte die Flasche in der Hand, zerrte an dem Etikett und begann kleine Fitzel abzureißen. Jedes Mal das Theater, wenn er die Kinder sehen wollte. Wie ein Bittsteller kam er sich vor. Nervige Diskussionen am Telefon. Schnupfen, Husten, Fieber, Kino. Einladung, Freund, Freundin. Jede Ausrede ein neuer Papierfitzel auf dem Tisch. Sie brauchte ihn doch nur als Unterhaltszahler. Wozu arbeitete er eigentlich noch? Damit sie sich ein schönes Leben machen konnte. Dieses verdammte Luder hatte nichts anderes im Kopf, als ihm das Geld aus der Tasche zu ziehen und ihm die Kinder zu entfremden. Am Ende würden sie ihn gar nicht mehr sehen wollen. War es denn nicht schon so? Sinnlos war alles geworden. Er trank die Flasche leer und holte eine neue aus dem Kühlschrank.
Sohnemann hatte sich nach ein paar Bissen vom Tisch entfernt und wieder in der Sofaecke hinter seinem Buch verkrochen. Seine kleine Schwester hatte auch keinen Hunger mehr. Sie kramte in der Spielzeugkiste herum. Normale Kinder spielten nach dem Abendessen mit ihren Vätern Fußball am Strand. Doch diese hier waren nicht normal, verdorben waren die. Nichts wollten sie mit ihm machen, ließen ihn ganz allein am Tisch sitzen. Robert räumte ab. Den Rest Spagetti und die Tomatensoße schüttete er in den Abfalleimer, stellte die Schüsseln zu den Tellern in das Spülbecken und warf nicht benutztes Besteck in die Schublade. Wozu kümmerte er sich eigentlich noch um diesen ganzen Mist? Sollten sie doch ihre Hamburger und  Pommes von Papptellern essen. Süßigkeiten aßen sie sowieso heimlich und würden ihrer bekloppten Mutter haarklein erzählen, dass es bei Papa wieder nichts Ordentliches zu Essen gab. Nur Ungesundes. Na und?
Er schaute hinaus in die Brandung. Diesen Urlaub hatte er sich wahrlich anders vorgestellt, hatte im Reisebüro lange gesucht, bis der das Häuschen in diesem Strandparadies gefunden hatte. Zusammen mit Paul und Katharina wollte er kochen, gemütlich essen und nach dem Abendessen am Strand Fußball spielen. Dann im warmen Sand sitzen und den Pelikanen beim Jagen zuschauen, er in der Mitte, rechts der Sohn, links die Tochter, bis die Sonne untergegangen war. So machten es andere Väter jeden Tag, so hatte er sich das gewünscht. Doch zu gar nichts hatten diese Kinder Lust, behandelten ihn wie einen Fremdkörper. Wahrscheinlich warteten sie nur darauf, dass das hier zu Ende ging und sie wieder zurück könnten. Zu ihr.
Katharina kam mit ihrem kleinen roten Eimer an und rückte den Stuhl neben seinen. Mit dem Arm schob sie seine Papierfitzel beiseite und legte eine Muschel vor ihn auf den Tisch.
„Hast du so eine große schon Mal gesehen, Papa?“ Beim Lachen zeigte sie ihre weißen Milchzähne. Ohne Frage, ein süßes kleines Ding war sie, seine Tochter.
„Die gibt es nur hier.“ Mehr fiel Robert dazu nicht ein. 
„Ja, die gibt es sonst nirgends.“ Sie strahlte ihn an. „Und guck mal diese hier. Wie die glänzt. So schön braun.“ Sie legte eine weitere daneben. Dann noch eine. Jedes Mal schaute sie erwartungsvoll zu ihm hoch. Allmählich entstand auf der blauen Wachstuchdecke ein Herzmuster aus Muscheln.
„Guck mal, hab ich für dich gemacht.“
„Ja, schön.“
„Papa, eigentlich bist du ja ganz nett. Aber der Jürgen sagt immer, du bezahlst nicht genug für uns.“
Das traf ihn jetzt wie ein Schlag.
„Jürgen? Wer ist Jürgen?“
„Der wohnt doch jetzt bei uns“, krähte die Kleine.
Robert knallte die Bierflasche auf den Tisch. Das war ja interessant. Ein wildfremder Mann in seinem Haus. Nistete sich rotzfrech ein und machte auch noch blöde Sprüche. Saublöde Sprüche. Dieses verdammte Weib war sich doch für nichts zu schade. Vor gar nichts schreckte die Frau zurück. Nicht zu fassen. Das war weit mehr, als er ertragen konnte. Doch er versuchte Haltung zu bewahren.
„Seit wann das denn?“
„Weiß ich nicht mehr genau. Er sagt auch, wir sind jedes Mal ganz durcheinander, wenn wir bei dir waren. Deswegen…“
Das schlug dem Fass den Boden aus. Robert sah rot. Er kannte sich selbst nicht mehr. Ja nicht ausrasten, dachte er und rannte hinaus an den Strand.

Als er zurückkam, saßen die Kinder ganz still auf dem Fußboden. Sie hatten ihre Malsachen geholt. Paul malte große schwarze Vögel mit langen Schnäbeln und Katharina ein Haus und Palmen, einen Mann und zwei Kinder. Robert holte ein Bier aus dem Kühlschrank, ging auf die Terrasse. Mit der Flasche in der Hand starrte er hinaus auf das Meer. Pelikane schwebten in Gruppen über dem Wasser. Einzeln schossen sie im Sturzflug hinunter, tauchten ein und flogen mit ihrer Beute wieder hoch. Jeden Abend dieses gigantische Schauspiel, bis die Sonne feuerrot im Meer unterging. Er stand noch da, als sie ganz verschwunden war und die Konturen am Horizont dunkel wurden, fast schwarz.
Ob die beiden Monster noch malten? Er ging hinein. Ohne Worte waren sie in ihrem Zimmer verschwunden. Er schlich hinein. Jedes lag in seinem Bett und schlief fest. Wie friedlich sie da lagen. Er bezahlte nicht genug. Ha. Dieser Macker musste das ja wissen. Er brachte sie ganz durcheinander. Ha. Ha. Jedes Mal, hatte die Kleine gesagt. Jedes Mal. Was sollte er denn noch alles tun? Auf Knien kriechen, um ihre Liebe bitten? Die er ja doch nicht bekam? Weil sie es nicht wollte. Dieses Weibsstück. Warum kriegte sie alles von ihnen? Woher kam der kalte Hauch?

Graue Wolken zogen schnell, verdeckten den Mond und gaben ihn wieder frei. Er hielt es drinnen nicht mehr aus, ging hinaus an den Strand und lief am Wasser entlang. Das aufgewühlte Meer konnte das Brodeln in seinem Innern nicht übertönen.
Diese falsche Schlange. Alles hatte sie kaputt gemacht. Sein Leben zerstört. Weggeschmissen wie einen alten Fußabtreter. Ausgetauscht.
Ein Mann mit Hund kam ihm in der Dunkelheit entgegen.
Feinde, überall Feinde!
Kalt war es hier. Woher kam die Kälte?
Blonde Haare vor ihm. Weiße Turnschuhe. Eine Joggerin. Sie bemerkte ihn nicht. Er lief hinter ihr her.
Ich krieg dich, du verdammtes Miststück. Jürgen heißt der also. Nimmt der dir nicht die Luft zum Atmen, du Schlampe? Wie macht er das? Kann er dich besser ficken, du Nutte? So ist das also. Und was war auf Sylt? Als ich die Kinder nicht sehen durfte? Meinen Urlaub verschieben musste? Da war Jürgen doch auch dabei. Familie Sonnenschein auf Sylt, schöne Idylle. Und dieses Spielchen soll ich finanzieren, mit meinem Geld? Die Tour werde ich euch vermiesen. Gründlich! Er holte die Frau ein, machte einen Sprung und packte zu. Sie fielen in den Sand. Robert umklammerte sie. Doch sie war stark, drehte sich um und riss an seinen Haaren. Er packte ihre Arme und presste ihren Körper in den nassen Sand. Eine Welle zog ihn mit der Frau ins Wasser. Sie drückte ihn von sich. Er versuchte sie festzuhalten und ihr Gesicht unter Wasser zu tauchen. Sie schlug nach ihm, trat ihm kräftig zwischen die Beine und konnte sich losreißen. Den Schmerz spürte er kaum. Er kämpfte sich aus der Brandung auf den Sand und lief hinter ihr her. Doch sie war schon zu weit weg. In das Tosen hinein brüllte er ihr nach. „Lauf nur weiter mit deinen lächerlich weißen Turnschuhen, du mieses Stück. Das nützt dir gar nichts. Ich krieg dich doch.“

Die Kinder lagen immer noch friedlich in ihren Betten. Paul hatte seinen schwarzen Panther im Arm und Katharina ihren Schnuffelhund. Der Mond schien in ihr Zimmer, warf helle Streifen auf ihre Gesichter. Nein, nein, ihr kleinen Ungeheuer. So unschuldig, wie ihr da liegt, seid ihr nicht. Komplizen seid ihr, Werkzeuge eurer Mutter. Gut abgerichtet. Lange schaute Robert seinen Sohn an. War er nicht ein hübscher Kerl, wenn er schlief? Sah er ihm nicht sogar ähnlich? Schade, dass er so vergiftet war. Er beugte sich zu Katharina hinunter, strich ihr über das Gesicht und die seidigen Haare. Wie weich sie sich anfühlte. So warm. „Meine Süße“, flüsterte er. „Mein Augenstern bist du. Dich könnte ich richtig lieb haben. Nicht weinen, meine Kleine, nicht weinen.“ Er küsste sie auf den Mund. Mit dem Arm wischte er sich die Tränen ab.


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