Dienstag, 19. Juni 2018

Lisa am See


Wir befanden uns auf einem wahnsinnig schmalen Pfad entlang einer Felswand, als Lisa sich plötzlich umdrehte, kreidebleich, nach meiner Hand griff und versuchte, sich an mir festzuhalten. „Hilf mir, Martin, ich kann nicht weiter.“
„Bleib ganz ruhig, bitte. Kopf hoch und geradeaus schauen.“
Saugefährlich war die Situation. Da stand ich nun mit Lisas zitternder Hand in meiner und hatte plötzlich selbst Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Links ging es fast senkrecht hinunter und rechts gab auch keinen Halt. Ich machte das, was ich ihr geraten hatte, schaute nach vorne.
„Pass auf, Lisa. Wenn ich jetzt deine Hand loslasse, gehst du ganz vorsichtig einen Schritt, okay?“
„Kann ich doch nicht.“
„Kannst du, mach nun.“
„Hilfe“, schluchzte sie und fing richtig an zu heulen.
„Jetzt reicht’s“, brüllte ich. „Sollen wir beide in den Abgrund stürzen? Geh! Sofort!“
Ich atmete auf, als sie meine Hand losließ und ein Schrittchen wagte.
Was war nur mit ihr los? Niemals hätte ich mit derartigen Schwierigkeiten gerechnet, als ich diese Tour mit ihr plante. Beim Skifahren war ihr kein Berg zu hoch und kein Hang zu steil. Was war denn im Sommer anders?
Gottlob war diese Felsumrundung irgendwann zu Ende und Lisa bekam ihre Panik in den Griff. Wir mussten noch einen Gebirgsbach überqueren, indem wir von Stein zu Stein sprangen, und ein ziemlich ausgedehntes Geröllfeld mit einigermaßen erträglichem Gefälle. Immerhin kamen wir mit heilen Knochen oben am See an, unserem Übernachtungsziel. Die Hochalm hatten wir ganz für uns alleine. Schweigend lagen wir im Gras zu Füßen des Felsmassivs, das wir in zwei Tagen umwandern wollten. Zunächst stand die Sonne noch über den beiden Gipfelzacken. Doch als sie plötzlich hinter dem Berg verschwand, lag unser schönes Plätzchen im Schatten. Es wurde sofort kühl und wir bauten unser kleines Zelt auf. Lisa hatte sich nach dem Aufstieg erstaunlich schnell erholt und half mir.
„Mach es dir schon mal drinnen bequem. Ich hole Wasser und dann gibt es Tee“, sagte ich, nahm meine Feldflasche und ging los. Nach Informationen im Wanderführer sprudelte aus den Felsen eine Quelle in den See. Es war ein Stückchen zu laufen, doch ich fand keine Wasserstelle, auch nicht, als ich über Gesteinsbrocken ein Stück nach oben kletterte. Ich horchte.  Da war auch kein Plätschern zu hören. Einige Meter über mir begann schon der Gletscher und ich entdeckte den Eingang zu einer Höhle. Ein weißes Gebilde hing von der Decke herunter, vielleicht ein Eiszapfen, doch konnte ich das aus der Entfernung nicht genau erkennen. Jedenfalls war das wohl eine der Eishöhlen, von denen der Mann in der Dorfkneipe erzählt hatte, in der wir den Abend vorher verbracht hatten. Eine wahre Horrorstory übrigens. Die Quelle fand ich jedenfalls nicht, hörte auch kein Plätschergeräusch. Seltsam war das schon, denn eigentlich müsste die in der Nähe sein.  Doch was sprach dagegen, wenn ich glasklares Wasser aus dem See schöpfte?
Mit gefüllter Feldflasche ging ich zurück zum Zelt, blieb davor stehen und schaute mich noch einmal um. Die Felsspitze war jetzt in Dunst eingehüllt, der Mond als milchiger Fleck zu erahnen. Es begann leicht zu schneien. Ja, in diesen Höhen war wettermäßig alles möglich. In kürzester Zeit legte sich ein weißer Schleier auf Zelt und Umgebung.
„Bist du es, Martin?“
„Ja.“
„Hast du die Quelle gefunden?“
„Ja, ja. Sie war weiter entfernt, als ich dachte.“
Ich musste ihr ja nicht alles erzählen, nach Diskussionen war mir nämlich nicht der Sinn. Das Wasser erhitzte ich draußen auf unserem kleinen Campingkocher. Das dauerte ein wenig.
„Versuch schon mal zwei Teebeutel in der Vortasche meines Rucksacks zu finden und ein paar Zuckerstücke“, forderte ich meine Begleiterin auf.
Dann balancierte ich den Topf mit dem kochenden Wasser durch die enge Öffnung und kroch vorsichtig hinein. Schön warm war es da. Wir füllten unsere Becher. Dann saßen wir nebeneinander im Zelt, wärmten uns die Hände, schlürften den süßen Tee und sahen durch den Zelteingang dicke Schneeflocken in den See schweben. Richtig schön sah das aus.
„Wenn ich mir überlege, es könnte stimmen, was der Mann unten in der Kneipe erzählt hat.“
„Ach, Lisa, lass es doch. Kannst du nicht einfach mal Ruhe geben? Auf Eiertänze hab ich nun heute wirklich keinen Bock mehr. Wir sind jetzt hier, haben einen wunderbaren Blick auf den See, dazu noch den Segen von Frau Holle. Und morgen ist ein neuer Tag. Ein bisschen essen wollen wir auch, und zwar ohne die Horrorvisionen dieser Dorfschelme. In meinem Vorrat hab ich noch feine Sachen. Hast du Hunger?“
„Klitzekleinen.“
Ich zog den Rucksack heran und kramte nach Essbarem.
„Hey, schau mal, was ich hier habe.“
„Ölsardinen, wie köstlich“, meinte sie. „Sonst mag ich sie gar nicht, aber hier ist sowieso alles anders.“
„Ohne Haut und ohne Gräten. Und was meinst du, was es dazu gibt?“
Ich kramte weiter und zog eine Packung Knäckebrot heraus.
„Voilà, wenn das keine Delikatessen sind!“
Dann holte ich mein Messer aus der Hosentasche, öffnete die Dose und gab sie ihr. Sie angelte sich mit der Gabel ihres nagelneuen Campingbestecks ein Fischchen, legte es auf eine Knäckebrotscheibe und weg war es.
„Jetzt du.“ Dose, Knäckebrot und Gabel reichte sie weiter.
„Klar, immer abwechselnd, bis alles ratzeputz weg ist. Und zum Dessert gibt’s für jeden einen Schokoriegel. Wenn das kein köstliches Mahl ist!“
„Martin“, schrie sie plötzlich auf, „hast du es gesehen?“
„Was denn?“
„Ein weißer Schatten“, kreischte sie, „schneeweiß, ganz dicht an unserem Zelt. Und das Flattern. So laut. Ganz nah.“
„Eine Fledermaus. In der Dunkelheit jagen sie.“
„Weiße Fledermäuse jagen nur tagsüber.“
Woher wollte sie das denn wissen? Klar jagten die auch nachts, wie alle Fledermäuse. Ungewöhnlich war eher, dass diese hier oberhalb der Baumgrenze umherschwirrte, wo doch ihre Heimat in den Regenwäldern von Honduras war. Möglich jedoch, dass es auch eine Art gab, die sich in Eis und Schnee wohl fühlte.
„Nicht alle“, sagte ich und damit gab sie sich zufrieden.
„Bei den Mühlreuters ist nichts mehr so, wie es war“, begann sie nach einer Weile.
„Diese Mühlreuters kenne ich nicht, du auch nicht und ich will sie auch nicht kennenlernen. Gibt’s denn nichts Besseres zu reden? Es schneit, wir sitzen im Trockenen und haben einen schönen Blick auf einen unvergleichlichen Gebirgssee.“
„Das Leben der Familie ist zerstört, seitdem Vanessa verschwunden ist.“
„Wer weiß, warum sie abgehauen ist. Für ein junges Mädchen, das dazu noch hübsch ist, gibt es reichlich Gründe, so ein Bergnest am Ende des Tales zu verlassen.“
„Hast du nicht gehört, was sie an der Theke noch erzählt haben?“
„Was interessiert mich das dumme Geschwätz dieser Almöhis?“
„Einer hatte in jener Nacht über Mühlreuters Haus ein weißes Flugwesen gesehen.“
„Papperlapapp.“
„Da war es wieder“, kreischte sie, sprang auf, kniete vor ihrem Rucksack und begann, ihre Sachen einzupacken.
„Was hast du vor?“
„Ich halte das hier nicht aus.“
„Beruhige dich, es ist alles in Ordnung.“
„Hier kann ich auf keinen Fall bleiben.“
„Und wo sollen wir hin? Den Abstieg können wir jetzt nicht machen. Lebensgefährlich ist das mitten in der Nacht.“
„Egal wie, ich gehe hinunter.“
„Und was war heute Nachmittag? Alles vergessen? Geröllfeld? Felswände? Abgrund?“
Sie schob ihren Rucksack in die Ecke und kroch wieder neben mich.
„Guck wenigstens draußen nach, was das war.“
Große Lust hatte ich nicht, aber so gab sie ja auch keine Ruhe.

Es schneite nicht mehr. Die Wolken waren weggezogen und der Mond beleuchtete von seinem Platz über dem Felsmassiv die Alm, schönes bläuliches Licht auf dem Schnee. Ziemlich groß war er und kreisrund. Ich schlich um unser Zelt herum, konnte aber zunächst nichts entdecken. Fußspuren waren da. Ich erkannte das Profil meiner Wanderschuhe. Als ich zu den zwei Felsen hinauf schaute, kam mir doch nun auch unwillkürlich die Story von den schaurigen Gestalten in Eisgrotten in den Sinn. Kein Wunder, dass die Leute in den Bergen solche Geschichten erfanden und am Ende sogar glaubten, sie wären Realität. Hatten sie doch tagtäglich dieses bizarre Felsmassiv vor Augen. Und das sah nicht immer gleich aus, sondern änderte seine Gestalt stündlich, je nach Sonnenstand, Regen, Schneefall, Nebel und vor allem bei Vollmond. Da konnte schon mal die Fantasie mit einem durchgehen und das schönste Gebirgslatein in den Kopf kommen.
Nun packte mich die Neugier. Ich wollte mir die Höhle da oben genauer ansehen. Wann hatte ich schon mal die Gelegenheit, weiße Fledermäuse zu betrachten? Über die Felsbrocken kletterte ich hinauf. Am Eingang angekommen, sah ich schon ein wunderbares Exemplar an der Decke hängen. Schneeweiß und viel größer als ich es mir vorgestellt hatte. Das musste ich mir aus der Nähe ansehen. Ich ging hinein und betrachtete das Tier. Wo waren denn die Ohren? Vom Foto wusste ich, dass sie kopfunter baumelten wie die schwarzen. Vorsichtig berührte ich es mit dem Finger. In dem Moment wurde ich von einem eisigen Sog erfasst und beinahe von den Beinen gerissen. Erschrocken fuhr ich herum. Eine schneeweiße Mähne schleuderte mir ins Gesicht und stechend blaue Augen bohrten sich in meinen Hals. Mit eisigen Klauen packte mich das Ungeheuer. Ich stemmte beide Arme gegen seinen Körper, griff jedoch ins Leere und taumelte gegen die Wand. Verzweifelt zog ich mein Messer aus der Hosentasche, klappte es blitzschnell auf und als ich es erhob, wich mein Gegner zurück. Jetzt würde ich ihn erledigen. Aber o Schreck! Die Waffe glitt mir aus der Hand. Ich wollte sie aufheben, rutschte aus und stürzte zu Boden.
Ein lang anhaltender Schrei brachte mir das Bewusstsein zurück. Woher kam der? Lisa! Was war ihr passiert? Ich stützte mich am Felsen ab, um auf die Beine zu kommen. Wo war das weiße Ungeheuer? Nur stille Winterlandschaft, wohin ich blickte. Friedlich lag das Zelt am See im blausilbernen Licht. Dann war ja wohl doch alles in Ordnung. Wie lange war ich denn weg gewesen? Lisa würde schon warten. Ich ging los. Da kam sie mir schon entgegen. Erst nur schwach zu erkennen, dann immer deutlicher. In weißem Gewand schwebte sie auf mich zu. Wunderschön sah sie aus mit ihren wehenden Haaren, ihr Mund so rot. Sie kam näher, die Arme mir zugewandt. Ich fasste ihre Hände. So kalt. Ihr blutroter Mund lächelte mich an. Sie zog mich an sich. Ihre Zähne glitzerten silbern. Immer näher kamen die. Mein Messer! Wo war es? Ich riss mich los, lief zurück, sah schon die Klinge im Mondenschein blitzen, schnappte es, schnellte herum und hielt es der Frau entgegen. Da war sie verschwunden.

„Du warst lange weg, Martin. Ich war schon eingeschlafen“, sagte Lisa, als ich in das Zelt kroch. „Wie kalt du bist. Komm zu mir in den Schlafsack.“
Das war eine gute Idee.
„Hast du draußen etwas gefunden?“
„Gefunden, entdeckt, herausgefunden, wie du willst“, sagte ich. „Doch morgen ist auch noch ein Tag. Jetzt bin ich hundemüde und muss erst mal eine Runde schlafen.“
Das würde mir in der kuscheligen Enge auch sofort gelingen. Wenn die Sonne aufging und das weiße Ungetüm wieder in seiner Höhle baumelte, würde ich die Quelle finden, Teewasser holen und Lisa beim Frühstück mit leckerem Cornedbeef und Knäckebrot von den schaurigen Bestien erzählen, die vor vielen Jahren in Ungarn vertrieben worden waren. Hier oben hatten sie sich eingenistet und waren Jahrhunderte lang eingefroren. Durch die Erderwärmung tauten sie nun auf und trieben ihr Unwesen. Eines von denen hatte Mühlreuters Tochter das Leben ausgesaugt. Seitdem irrte Vanessa in Vollmondnächten im Gebirge umher.

Mehr Kurzgeschichten von Renate Hupfeld in:


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen