Sonntag, 18. Januar 2015

Therapeut



Lautlos ging sie zwischen Trümmern und Schutt. Es war sehr dunkel in dieser Nacht. Ein kleines, weißes Licht in der Ferne reichte jedoch, um zwei seltsame Gestalten zu erkennen. Eine dicke Frau saß auf einem Stein und glotzte in das Dunkel. Neben ihr lag ein erbärmlich aussehender Mann im Staub. Sie blieb bei dem Pärchen stehen, aber nur kurz, denn es zog sie weiter, dem weißen Licht entgegen. Je näher sie kam, desto größer wurde es. Sie erreichte einen Strand, an dem die Brandung leise rauschte. Das Gehen war anstrengend, denn bei jedem Schritt sank sie im weichen Sand ein.
„Hallo“, sagte ein winziges Stimmchen. Es gehörte zu einem Mädchen mit großen, traurigen Augen.
„Hallo, du kleines Wesen. Warum sitzt du hier so mutterseelenallein am Strand?“
„Ich warte. Und du? Bist du gekommen, um das böse Lächeln zu sehen?“
„Ich weiß nicht, warum ich hier bin.“
Da war das Kind plötzlich verschwunden. Aber das weiße Licht war jetzt ganz nah. Sie erschrak, als es mit einem Knall in flackernde Lichtstäbe zerfiel, die von  der Mitte her nach außen schwebten und sich in Schwerter verwandelten. Immer neue weiße Schwerter bewegten sich in dem dunklen Raum, blitzten in so schnellem Stakkato, dass ihr schwindlig wurde und sie ohnmächtig in den Sand fiel.

Als sie zu sich kam, spürte sie ein schweres Gewicht auf ihrer Brust. Sie versuchte es wegzudrücken und sich aufzurichten, aber vergeblich. Unter der riesigen Masse war sie nahe daran zu ersticken. Ein Tier schnupperte in ihrem Gesicht. Sie wollte schreien, aber kein Laut kam heraus. Als es mit seiner kalten, nassen Schnauze ihren Mund berührte, zuckte sie zurück. Mit starken Beinen drückte es ihre Schenkel auseinander, drang in sie ein und bewegte sich in ihr, hektisch atmend, so lange, bis es schwer auf ihr zusammensackte. Dann wälzte es sich herunter. Brechreiz stieg in ihr hoch, sie würgte.
„Mein Baby wacht auf.“ Da sprach ein Mann in dem ohrenbetäubendem Hämmern von Instrumenten und Wortfetzen. Im nächsten Moment wurde es still. Als sie sich aufrichtete, wurde ihr klar, dass sie in eine Falle geraten war.
„Du verdammtes Schwein“, schrie sie. „Was hast du mit mir gemacht?“
Splitternackt saß sie im Halbdunkel. Eine flackernde Kerze war die einzige Lichtquelle. Sie wollte weglaufen, fühlte sich aber zu schwach und fand nicht einmal mehr Worte. Auf dem Boden entdeckte sie ihre Jeans. Der fremde Mann ließ zu, dass sie sich anzog, was eine Weile dauerte, weil sie stark zitterte.
„Es war doch auch für dich schön.“
„Nein“, sagte sie. Das klang nicht so wütend, wie sie es eigentlich sagen wollte.
„Widerliches Subjekt.“
„Aber nicht doch.“
Breitbeinig stand er vor ihr, so dass sein Penis fast ihr Gesicht berührte. Sie drückte sich in das Rückenpolster und versuchte die Tränen zurückzuhalten. Dieses nackte Ungeheuer hatte sie auf diesem schäbigen Sofa vergewaltigt und sie wusste nicht einmal, wo sie war und wie sie hierher gekommen war.
Sie atmete auf, als er sich von ihr entfernte und sich in den Sessel neben dem Sofa setzte. Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute er sie an, als erwartete er etwas von ihr. Ihr war übel und sie fühlte sich schwach, wohl im Gegensatz zu ihm. Er genoss sichtlich seinen Triumph.
„Du kennst mich, Linda.“
Woher wusste der Scheißtyp ihren Namen? Ihre Wut verwandelte sich langsam in Beklemmung. An was für ein Monster war sie nur geraten? Kannte sie diesen Mann? Sein Gesicht mit den  fleischigen Wangen und diesem verkniffenen Ausdruck in den Augen? Dieses Verschlagene, das man nicht knacken konnte? Das alles kam ihr bekannt vor, aber ihr fiel keine Person dazu ein. Offensichtlich wusste er einiges über sie. Hatte sie mit ihm zu tun gehabt? Wenn überhaupt, dann in der Klapse. Mein Gott, wie viele Figuren hatte sie da schon vor sich sitzen gehabt?
„Michi sagten meine Freunde, du sagtest Michael.“
Sein triumphierender Blick gepaart mit ihrer eigenen Ohnmacht machte sie fast wahnsinnig.
„Immer noch keine Erinnerung?“, fuhr er fort und weidete sich an ihrer Ungewissheit  „An deiner Stelle würde ich mich auch nicht gerne erinnern. Überleg doch mal. Wer ist Michi?“
Er wartete eine Weile.
„Na, ich helfe dir.“
Ihre Schwäche wich langsam der Einsicht, dass sie sich irgendwie aus dieser bizarren Situation befreien musste. Bevor ihr etwas dazu einfiel, redete er auch schon weiter.
„Es war einmal ein kleiner Junge“, begann er. „Der hatte jeden Tag einen kleinen Steifen in der Hose. Schau, so.“ Dabei nahm er sein Glied zwischen die Hände und rieb daran, bis es steif zwischen seinen Beinen stand.  
Linda blickte demonstrativ gelangweilt.
„Diesen kleinen Steifen drückte der Junge mehrmals täglich seiner viel jüngeren Schwester zwischen die Beine.“
Er schaute erwartungsvoll, ob sie sich nun wohl erinnerte. Sie ahnte etwas, aber ihr fehlten immer noch die Worte.
„Penetrieren nanntest du das und wolltest es immer wieder hören, wie die Kleine schrie beim Penetrieren und wie meine Mutter währenddessen nebenan auf dem Sofa vor dem Fernseher lag und nichts merkte, weil sie glaubte, wir hätten einen Streit unter Kindern. Immer wieder musste ich dir erzählen, wie ich penetrierte, wie meine kleine Schwester schrie und wie meine Mutter nichts merkte, immer wieder.“
Penetrieren. Da sah sie ihn plötzlich, diesen linkischen Jungen. Vierzehn war er gewesen, zehn Jahre musste das jetzt her sein. Und seine Schwester, erst vier Jahre alt, klein und verängstigt in die Sofaecke gedrückt. Daneben die fette Mutter, die nichts geblickt und sich nie gewehrt hatte, wenn die Freier ihre perversen Gelüste an ihr auslebten.
Ein Kotzbrocken war er damals schon gewesen, unterschwellig aggressiv und unattraktiv, Hängebacke hatte sie ihn insgeheim genannt. Sie hatte nicht an eine Besserung seines Verhaltens geglaubt und dafür gesorgt, dass er in den Jugendknast kam. Und jetzt trieb er weiter sein Unwesen, nichts gelernt hatte er.
Seine Aggressionen waren nicht zu unterschätzen. Ja nicht zu sehr reizen, dachte sie. Wenn man etwas Unangemessenes tat, wurden diese Leute unberechenbar. Hatte sie doch genug Ausraster erlebt in all den Jahren. Klar hatte sie auch Fehler gemacht, aber es war ihre Stärke, in prekären Situationen den Überblick zu behalten. Die Opferrolle war ihr fremd. Und jetzt saß sie hier, gefangen in einem dunklen Raum und hoffte, dass die Kerzenflamme nicht erstickte.
„Du konntest gar nicht genug davon kriegen. Wenn ich erzählte, hattest du ein Lächeln im Gesicht und deine blauen Augen leuchteten …“
„Ja, ich erinnere mich“, unterbrach sie ihn. „Du kamst in den Jugendknast. Und wie ging es danach weiter?“
 „Entlassen wegen guter Führung, schon nach einem halben Jahr.“
Typisch für einen wie diesen. Heuchler!
„Und nach dem Knast?“, fragte sie.
„Habe ich einen Aushilfsjob bei der Stadtgärtnerei gefunden. Den mache ich immer noch und halte mich damit über Wasser. Übrigens wohne ich in der Nähe vom Havana, wenn dir das was sagt.“
Ihr Stammlokal. Was wusste der denn noch alles?
„Und wie …?“
„Wie du hierher gekommen bist? Ganz einfach. Wir sind zusammen hierher gegangen.“
„Das kann nicht sein.“
„Wir saßen nebeneinander an der Bar im Havana. Du hast mich nicht gesehen, konntest deine Augen nicht lösen von dem großen Foto an der Wand. Hemingway, scheint dir zu gefallen, der Mann.“
„Aber …“
„… dann gingst du auf die Toilette und dein Chianti stand ganz allein neben meinem Bier. Und da konnte ich in aller Ruhe mit einer sehr wirkungsvollen Substanz deiner Stimmung ein wenig auf die Sprünge helfen.“
Wie billig! Dieser Verbrecher! Wie konnte ihr das nur passieren? Es fiel ihr schwer sich zu beherrschen. Aber sie durfte jetzt keinen Fehler machen, ja keinen Ausraster provozieren.
„Und weiter?“
„Als du deinen Chianti getrunken hattest, warst so wacklig auf den Beinen, dass du nur mit meiner Hilfe das Lokal verlassen konntest. Nun, gottlob hatten wir es nicht weit. Ja, das hättest du auch nicht vermutet, dass ich in der Nähe des Havana wohne.“
„Nein, wirklich nicht.“
Schön ruhig bleiben, dachte sie.
„Und das andere weißt du ja selber. Hier haben wir es uns dann gemütlich gemacht. Und dir hat es auch richtig Spaß gemacht, schön gestöhnt hast du unter mir.“
„Hör auf, du hässlicher Gnom.“ Sie sprang auf und wollte einen Lichtschalter suchen.
„Wo ist meine Jacke?“
Er packte sie an den Armen und drückte sie zurück in das Sofa.
„Schatz, wir wollen doch mitten in der Nacht nicht mehr ausgehen.“
„Mein Handy.“
„Brauchst du alles nicht. Lehne dich ganz entspannt zurück, die Sitzung ist noch nicht beendet. Dein Therapeut hat gute Medizin für dich vorbereitet. Chianti, heute mal mit Schuss.“

Ganz nah war das weiße Licht. Mit einem Knall zerfiel es in flackernde Lichtstäbe, die von  der Mitte her nach außen schwebten und sich allmählich in Schwerter verwandelten. Immer neue weiße Schwerter bewegten sich im dunklen Raum, blitzten in schnellem Stakkato. DU KANNST SIE RETTEN stand plötzlich in riesigen Buchstaben am Himmel.
 „Hast du das böse Lächeln gesehen?“, fragte das winzige Stimmchen.
 „Wir werden es töten und die traurige Stadt erlösen“, sagte Linda, nahm die Kleine an die Hand und ging mit ihr zusammen fort.


©Renate Hupfeld 07/2005

... in : 
"Zwischen Himmel und Erde - Mystery Geschichten" 
Hrsg. Andreas Schröter
www.schreib-lust.de
Erste Auflage 2005


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