Lautlos ging sie zwischen Trümmern und Schutt. Es war sehr
dunkel in dieser Nacht. Ein kleines, weißes Licht in der Ferne reichte jedoch,
um zwei seltsame Gestalten zu erkennen. Eine dicke Frau saß auf einem Stein und
glotzte in das Dunkel. Neben ihr lag ein erbärmlich aussehender Mann im Staub. Sie
blieb bei dem Pärchen stehen, aber nur kurz, denn es zog sie weiter, dem weißen
Licht entgegen. Je näher sie kam, desto größer wurde es. Sie erreichte einen
Strand, an dem die Brandung leise rauschte. Das Gehen war anstrengend, denn bei
jedem Schritt sank sie im weichen Sand ein.
„Hallo“, sagte ein winziges
Stimmchen. Es gehörte zu einem Mädchen mit großen, traurigen Augen.
„Hallo, du kleines Wesen. Warum
sitzt du hier so mutterseelenallein am Strand?“
„Ich warte. Und du? Bist du
gekommen, um das böse Lächeln zu sehen?“
„Ich weiß nicht, warum ich hier
bin.“
Da war das Kind plötzlich
verschwunden. Aber das weiße Licht war jetzt ganz nah. Sie erschrak, als es mit
einem Knall in flackernde Lichtstäbe zerfiel, die von der Mitte her nach außen schwebten und sich in
Schwerter verwandelten. Immer neue weiße Schwerter bewegten sich in dem dunklen
Raum, blitzten in so schnellem Stakkato, dass ihr schwindlig wurde und sie
ohnmächtig in den Sand fiel.
Als sie zu sich kam, spürte sie
ein schweres Gewicht auf ihrer Brust. Sie versuchte es wegzudrücken und sich
aufzurichten, aber vergeblich. Unter der riesigen Masse war sie nahe daran zu
ersticken. Ein Tier schnupperte in ihrem Gesicht. Sie wollte schreien, aber
kein Laut kam heraus. Als es mit seiner kalten, nassen Schnauze ihren Mund
berührte, zuckte sie zurück. Mit starken Beinen drückte es ihre Schenkel auseinander,
drang in sie ein und bewegte sich in ihr, hektisch atmend, so lange, bis es schwer
auf ihr zusammensackte. Dann wälzte es sich herunter. Brechreiz stieg in ihr
hoch, sie würgte.
„Mein Baby wacht auf.“ Da sprach
ein Mann in dem ohrenbetäubendem Hämmern von Instrumenten und Wortfetzen. Im
nächsten Moment wurde es still. Als sie sich aufrichtete, wurde ihr klar, dass
sie in eine Falle geraten war.
„Du verdammtes Schwein“, schrie
sie. „Was hast du mit mir gemacht?“
Splitternackt saß sie im
Halbdunkel. Eine flackernde Kerze war die einzige Lichtquelle. Sie wollte
weglaufen, fühlte sich aber zu schwach und fand nicht einmal mehr Worte. Auf
dem Boden entdeckte sie ihre Jeans. Der fremde Mann ließ zu, dass sie sich
anzog, was eine Weile dauerte, weil sie stark zitterte.
„Es war doch auch für dich schön.“
„Nein“, sagte sie. Das klang
nicht so wütend, wie sie es eigentlich sagen wollte.
„Widerliches Subjekt.“
„Aber nicht doch.“
Breitbeinig stand er vor ihr, so
dass sein Penis fast ihr Gesicht berührte. Sie drückte sich in das Rückenpolster
und versuchte die Tränen zurückzuhalten. Dieses nackte Ungeheuer hatte sie auf
diesem schäbigen Sofa vergewaltigt und sie wusste nicht einmal, wo sie war und
wie sie hierher gekommen war.
Sie atmete auf, als er sich von
ihr entfernte und sich in den Sessel neben dem Sofa setzte. Mit hochgezogenen
Augenbrauen schaute er sie an, als erwartete er etwas von ihr. Ihr war übel und
sie fühlte sich schwach, wohl im Gegensatz zu ihm. Er genoss sichtlich seinen
Triumph.
„Du kennst mich, Linda.“
Woher wusste der Scheißtyp ihren
Namen? Ihre Wut verwandelte sich langsam in Beklemmung. An was für ein Monster
war sie nur geraten? Kannte sie diesen Mann? Sein Gesicht mit den fleischigen Wangen und diesem verkniffenen
Ausdruck in den Augen? Dieses Verschlagene, das man nicht knacken konnte? Das
alles kam ihr bekannt vor, aber ihr fiel keine Person dazu ein. Offensichtlich
wusste er einiges über sie. Hatte sie mit ihm zu tun gehabt? Wenn überhaupt,
dann in der Klapse. Mein Gott, wie viele Figuren hatte sie da schon vor sich
sitzen gehabt?
„Michi sagten meine Freunde, du
sagtest Michael.“
Sein triumphierender Blick gepaart
mit ihrer eigenen Ohnmacht machte sie fast wahnsinnig.
„Immer noch keine Erinnerung?“,
fuhr er fort und weidete sich an ihrer Ungewissheit „An deiner Stelle würde ich mich auch nicht
gerne erinnern. Überleg doch mal. Wer ist Michi?“
Er wartete eine Weile.
„Na, ich helfe dir.“
Ihre Schwäche wich langsam der
Einsicht, dass sie sich irgendwie aus dieser bizarren Situation befreien musste.
Bevor ihr etwas dazu einfiel, redete er auch schon weiter.
„Es war einmal ein kleiner Junge“,
begann er. „Der hatte jeden Tag einen kleinen Steifen in der Hose. Schau, so.“
Dabei nahm er sein Glied zwischen die Hände und rieb daran, bis es steif zwischen
seinen Beinen stand.
Linda blickte demonstrativ gelangweilt.
„Diesen kleinen Steifen drückte
der Junge mehrmals täglich seiner viel jüngeren Schwester zwischen die Beine.“
Er schaute erwartungsvoll, ob
sie sich nun wohl erinnerte. Sie ahnte etwas, aber ihr fehlten immer noch die
Worte.
„Penetrieren nanntest du das und
wolltest es immer wieder hören, wie die Kleine schrie beim Penetrieren und wie
meine Mutter währenddessen nebenan auf dem Sofa vor dem Fernseher lag und nichts
merkte, weil sie glaubte, wir hätten einen Streit unter Kindern. Immer wieder
musste ich dir erzählen, wie ich penetrierte, wie meine kleine Schwester schrie
und wie meine Mutter nichts merkte, immer wieder.“
Penetrieren. Da sah sie ihn plötzlich,
diesen linkischen Jungen. Vierzehn war er gewesen, zehn Jahre musste das jetzt
her sein. Und seine Schwester, erst vier Jahre alt, klein und verängstigt in
die Sofaecke gedrückt. Daneben die fette Mutter, die nichts geblickt und sich
nie gewehrt hatte, wenn die Freier ihre perversen Gelüste an ihr auslebten.
Ein Kotzbrocken war er damals
schon gewesen, unterschwellig aggressiv und unattraktiv, Hängebacke hatte sie
ihn insgeheim genannt. Sie hatte nicht an eine Besserung seines Verhaltens geglaubt
und dafür gesorgt, dass er in den Jugendknast kam. Und jetzt trieb er weiter
sein Unwesen, nichts gelernt hatte er.
Seine Aggressionen waren nicht
zu unterschätzen. Ja nicht zu sehr reizen, dachte sie. Wenn man etwas
Unangemessenes tat, wurden diese Leute unberechenbar. Hatte sie doch genug
Ausraster erlebt in all den Jahren. Klar hatte sie auch Fehler gemacht, aber es
war ihre Stärke, in prekären Situationen den Überblick zu behalten. Die
Opferrolle war ihr fremd. Und jetzt saß sie hier, gefangen in einem dunklen
Raum und hoffte, dass die Kerzenflamme nicht erstickte.
„Du konntest gar nicht genug davon
kriegen. Wenn ich erzählte, hattest du ein Lächeln im Gesicht und deine blauen
Augen leuchteten …“
„Ja, ich erinnere mich“,
unterbrach sie ihn. „Du kamst in den Jugendknast. Und wie ging es danach
weiter?“
„Entlassen wegen guter Führung, schon nach
einem halben Jahr.“
Typisch für einen wie diesen.
Heuchler!
„Und nach dem Knast?“, fragte
sie.
„Habe ich einen Aushilfsjob bei
der Stadtgärtnerei gefunden. Den mache ich immer noch und halte mich damit über
Wasser. Übrigens wohne ich in der Nähe vom Havana, wenn dir das was sagt.“
Ihr Stammlokal. Was wusste der denn
noch alles?
„Und wie …?“
„Wie du hierher gekommen bist?
Ganz einfach. Wir sind zusammen hierher gegangen.“
„Das kann nicht sein.“
„Wir saßen nebeneinander an der
Bar im Havana. Du hast mich nicht gesehen, konntest deine Augen nicht lösen von
dem großen Foto an der Wand. Hemingway, scheint dir zu gefallen, der Mann.“
„Aber …“
„… dann gingst du auf die
Toilette und dein Chianti stand ganz allein neben meinem Bier. Und da konnte
ich in aller Ruhe mit einer sehr wirkungsvollen Substanz deiner Stimmung ein
wenig auf die Sprünge helfen.“
Wie billig! Dieser Verbrecher! Wie
konnte ihr das nur passieren? Es fiel ihr schwer sich zu beherrschen. Aber sie
durfte jetzt keinen Fehler machen, ja keinen Ausraster provozieren.
„Und weiter?“
„Als du deinen Chianti getrunken
hattest, warst so wacklig auf den Beinen, dass du nur mit meiner Hilfe das
Lokal verlassen konntest. Nun, gottlob hatten wir es nicht weit. Ja, das hättest
du auch nicht vermutet, dass ich in der Nähe des Havana wohne.“
„Nein, wirklich nicht.“
Schön ruhig bleiben, dachte sie.
„Und das andere weißt du ja
selber. Hier haben wir es uns dann gemütlich gemacht. Und dir hat es auch richtig
Spaß gemacht, schön gestöhnt hast du unter mir.“
„Hör auf, du hässlicher Gnom.“
Sie sprang auf und wollte einen Lichtschalter suchen.
„Wo ist meine Jacke?“
Er packte sie an den Armen und drückte
sie zurück in das Sofa.
„Schatz, wir wollen doch mitten
in der Nacht nicht mehr ausgehen.“
„Mein Handy.“
„Brauchst du alles nicht. Lehne
dich ganz entspannt zurück, die Sitzung ist noch nicht beendet. Dein Therapeut
hat gute Medizin für dich vorbereitet. Chianti, heute mal mit Schuss.“
Ganz nah war das weiße Licht.
Mit einem Knall zerfiel es in flackernde Lichtstäbe, die von der Mitte her nach außen schwebten und sich
allmählich in Schwerter verwandelten. Immer neue weiße Schwerter bewegten sich
im dunklen Raum, blitzten in schnellem Stakkato. DU KANNST SIE RETTEN stand
plötzlich in riesigen Buchstaben am Himmel.
„Hast du das böse Lächeln gesehen?“, fragte
das winzige Stimmchen.
„Wir werden es töten und die traurige Stadt
erlösen“, sagte Linda, nahm die Kleine an die Hand und ging mit ihr zusammen fort.
©Renate
Hupfeld 07/2005
... in :
"Zwischen Himmel und Erde - Mystery Geschichten"
Hrsg. Andreas Schröter
www.schreib-lust.de
Erste Auflage 2005
Mehr Kurzgeschichten von Renate Hupfeld gibt es in dieser Sammlung:
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