Auf dem Parkplatz an der Einfahrt zum Gelände des alten
Rittergutes stellt Hannah ihr Auto ab. „Schule in der Klinik für Kinder- und
Jugendpsychiatrie“. Hier arbeitet sie seit vielen Jahren. Einige Jungen und
Mädchen sind schon Zigarette rauchend in Richtung Schulgebäude unterwegs. Warum
sehen sie eigentlich so normal aus, denkt Hannah. Ihre Lerngruppe besteht aus
fünf intelligenten jungen Menschen
zwischen siebzehn und zwanzig Jahre alt. Punkt acht Uhr sitzen sie an ihren Tischen,
die Blicke auf Hannahs Pult gerichtet. „Diderich Heßling – ein durchtriebenes
Kind“ steht an der Wandtafel. Textausschnitte aus einem Roman von Heinrich Mann
werden untersucht. Starker Vater, schwache Mutter, das Kind hat Lustgefühle,
wenn der Vater es verprügelt, finden die Schüler heraus.
Kurz vor Ende der Deutschstunde wird die Tür des
Klassenraums geöffnet. Stefan aus einer anderen Welt. Hannah wundert sich über
sein Outfit, billige Jeans und Anorak. Ganz anders als während der Skifreizeit
im Allgäu. Stefan mit großem Koffer und einem Schrank voller feinster
Klamotten. Sie selbst hatte sich ein Kashmere Sakko für einen Restaurant Besuch
bei ihm geliehen. Angeblich Geschenk seiner Mutter.
Hannah beendet die Unterrichtsstunde, formuliert eine Hausaufgabe
und schickt die Schüler in die Pause. Stefan steht am Fenster Klassenraums und
schaut in Richtung Schulgarten. So wird sie diesen hübschen Jungen in
Erinnerung behalten. Später wird sie Bilder von der Skifreizeit betrachten und
fest stellen, dass er auf fast allen ihren Fotos zu sehen ist. Stefan bei der
Wanderung im Schneetreiben, Stefan im Lift und mit schwarz-weiß geschminktem
Gesicht am Abschlussabend.
Dir geht’s schlecht, sagt Hannah.
Ich will wieder in die Schule.
Du kennst unsere Regeln. Wenn du clean bist, kannst du
wieder am Unterricht teilnehmen.
„Diderich Heßlings Entwicklung zum Untertan“ schreibt Hannah
am nächsten Morgen an die Tafel. Sie gibt den Schülern ein Arbeitsblatt mit
Aufgaben und Hinweisen. Während die Gruppe arbeitet, klingelt das Telefon auf
Hannahs Tisch.
Stefan ist tot. Er wurde in einem Stundenhotel in der Nähe
des Dortmunder Hauptbahnhofs gefunden. Überdosis.
Renate Hupfeld am 24. August 2002 während des Arnsberger Kunstsommers im Workshop „Kurze Texte“ mit Michael Klaus
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