Dienstag, 7. Dezember 2021
Und immer wieder die Gitarre
Mittwoch, 14. Juli 2021
White Lady
Benommen irrte sie zwischen dichten Hecken umher und fragte sich, wie sie in diesen Garten gekommen war. Lieblicher Rosenduft stieg ihr in die Nase, aus einer Nische war leises Plätschern zu hören. Eine Katze, die auf dem Polster eines Korbsessels ausgestreckt lag, schenkte ihr ein müdes Blinzeln. Hinter der Terrasse befanden sich die Glaswände einer Schwimmhalle. Als sie eintrat, erschrak sie über die Stille, die sie plötzlich umgab. Schneeweiße Hibiskusblüten spiegelten sich auf der Wasserfläche.
Gab es denn nirgendwo einen Ausgang?
Auch der nächste Raum, in den sie gelangte, war unglaublich groß, eher ein Foyer, überspannt von einer Glaskuppel in schwindelnder Höhe. Schwere Polstermöbel in weißem Leder, gruppiert um einen Tisch, auf dem zwei Weingläser dicht nebeneinander standen. Und da hing ihre Jacke über der Sofalehne. Als sie das Handy in der Innentasche fand, dachte sie an Vanessa und wählte die Nummer. Zusammen mit ihr war sie im Einkaufscenter und in der Fußgängerzone gewesen. Dann waren sie im ‚Barbados’ eingekehrt, hatten bei schummerigem Licht an einem kleinen Tisch gesessen, waren auch ein bisschen betrunken gewesen, hatten gestritten, wegen Jan mal wieder, und sie hatte sich an die Bar gesetzt. Filmriss. Was war danach geschehen?
Sie tat einen Seufzer der Erleichterung, als sie die Stimme ihrer Freundin hörte. Jetzt würde sich alles aufklären.
„Hier ist Melanie. Du musst mir helfen….Sauer? Ich dachte…Mit welchem Mann, um Gottes Willen?“
Aufgeregt lief sie zwischen Sofa und Vitrine hin und her.
„Wenn ich das wüsste! Bonzengegend, würde ich sagen. Villa mit Pool und Park, Kamin aus weißem Marmor. So was hast du noch nicht gesehen. Luxus pur. Hörst du mir überhaupt zu? Ich hatte einen Blackout, kapier das doch!“
Vanessa glaubte ihr nicht. Enttäuscht ließ sie sich auf das Sofa fallen und versuchte, Licht in das Dunkel zu bringen. Ein Mann hatte sich zu ihr an die Bar gesetzt und ihr einen Cocktail spendiert. Kurz danach hatte sie mit ihm das Lokal verlassen. Einfach mitgegangen, wie ein willenloses Objekt. Sehr merkwürdig. Dann hatte sie die Nacht mit dem Fremden verbracht? So tief war sie gefallen?
Aber wo war der Mann? Vielleicht beobachtete er sie heimlich. Sollte sie so einem Psychopathen ins Netz gegangen sein? Aus dem Bistro gefischt und eingesperrt? Doch wohnten die nicht ganz bieder in Reihenhäusern, fesselten ihre Opfer und sperrten sie in Verliese? Der geheimnisvolle Unbekannte konnte sich diese Nobelherberge leisten, viel zu groß für einen allein. Vielleicht ein Manager, dem die Frau weggelaufen war, aus welchem Grund auch immer. Offensichtlich hatte er eine besondere Vorliebe für alle weißen Dinge. Das Kinderlied von den Farben kam ihr in den Sinn und wie gerne sie immer die eine Stelle gesungen hatte, von dem Schatz, der ein Schneemann war. Insgeheim musste sie lachen, wenn sie daran zurück dachte. So lustig das Lied.
Sie legte den müden Kopf auf das Polster und streckte die Beine aus. Nur nicht einschlafen, dachte sie. In dem Moment entdeckte sie in diesem großartigen Ambiente das Eingangsportal. Da war doch der Ausgang. Sie sprang auf, lief zur Tür und drehte an dem goldenen Knauf. Auf einem gepflasterten Weg zwischen dicken Baumstämmen rannte sie zum Tor, dann stand sie auf der Straße. Das war noch einmal gut gegangen, alles Weitere würde sich finden. Nie wieder einen Cocktail, von dem sie nicht wusste, was darin enthalten war, schwor sie sich und überlegte, wohin sie jetzt gehen sollte. Nach links führte die Straße in einen Wald, zur anderen Seite machte sie eine Kurve. Sie wandte sich nach rechts.
„Wohin, Lady?“
Melanie fuhr herum und starrte in ein grinsendes Gesicht. Der Mann packte ihren Arm.
„Fass mich nicht an!“
„Du musst nicht schreien.“
„Ich schreie so laut ich will.“
Sie versuchte sich loszureißen. Als das nicht gelang, wollte sie ihm mit der freien Faust auf die Nase schlagen, doch blitzschnell griff er wieder zu und hielt nun ihre beiden Arme umklammert.
„Dich hört hier keiner“, höhnte er sichtlich amüsiert und presste seine dicken Finger so fest in ihre Oberarme, dass sie vor Schmerz aufschrie.
„Was willst du von mir, du alter Sack?“
„Aber, aber.“
„Also, was soll diese Inszenierung? Lassen Sie mich gehen, bitte!“
„Viel besser“, erwiderte er.
Wie blödsinnig zu glauben, dass diese Masche bei ihm zog.
„Aber sag doch einfach Viktor“, fuhr er in seiner widerlich höhnenden Tonlage fort. „Du wolltest die Inszenierung, Lady. Du wolltest unbedingt hierher. Und wie Recht du hattest. Hier ist es schön. Komm zurück in mein Paradies.“
Die Freiheit schien zum Greifen nah, doch diese Ausgeburt von Hässlichkeit schleppte sie durch das Tor und schloss es ab.
„Komm, Lady“, schmeichelte er und packte ihre Hand. Sie musste mit, ob sie wollte oder nicht, und befand sich wieder unter der gläsernen Kuppel. Als er auch noch die Hauseingangstür abschloss und sie mit zusammengekniffenen Augen angrinste, kam sie sich vor, wie die Protagonistin in einem Psychokrimi. Sie war in seiner Hand, besser gesagt, sie steckte in der Falle.
Es fiel ihr schwer, einen klaren Kopf zu behalten. Der Mann war stärker als sie und unberechenbar. Wie sollte sie ihn überlisten? Wenn sie nur nicht so schlapp wäre! Dieses verdammte Teufelszeug. Irgendwann sollte doch die Wirkung nachlassen.
Die Aquarien in der Schwimmhalle hatte sie beim Hereinkommen nicht gesehen. Verborgen hinter den Hibiskuspflanzen standen sie an der Wand neben der Bar.
„Schau sie dir an, diese exotischen Schönheiten. Wie sie schwimmen, so frei, so elegant. Wunderbar, vor allem die weißen, findest du nicht?“
„Doch, doch.“
„Piranhas fressen Skalare. Wusstest du das, Lady? Dieser hier liebt die weißen.“
„Nein, bitte nicht …“, flehte sie, als er die weiße Schönheit aus dem kleinen Becken fischte. Er hielt das Netz hoch und schaute zu, wie der Fisch sich wand. Als er nur noch leicht zuckte, ließ der Mann ihn langsam in das größere Becken gleiten. Es dauerte eine Weile, bis der Gequälte zu schwimmen begann. Und es dauerte wieder eine Weile, bis der große Schwarze langsam aus seiner Ecke kam und sich der weißen Schönheit näherte.
„Schau genau hin, Lady. Siehst du die Zacken?“
Verzückt blickte er in den gierigen Rachen.
„Wie spitz sie sind, die Beißerchen. Und scharf. Siehst du, was er macht?“
So stark der Sog.
Zu stark.
„Ein herrliches Skelett“, schwärmte er, als der Schwarze sein Werk vollendet hatte. „Wie es schwebt. Ich kann mich nicht satt sehen.“
„Schneeweiß“, hauchte sie.
„Ja, so schön weiß“, flüsterte er und seine Augen blickten böse.
Sie wollte weglaufen, doch die Beine gehorchten nicht.
„Was ist mit dir, Lady? Deine Händchen. Sie sind ja so kalt. Komm zu mir.“
Ganz steif wurde sie, als er sie an sich zog.
„Ich spiel es noch einmal für dich. Hörst du es?“
Your skin has turned to white, sang Cat Stevens.
Von ganz weit entfernt hörte sie die Gitarre.
„Lass uns tanzen, Lady.“
Als er sie mit seinen Armen umschlang, drückte sein massiger Körper ihr die Luft ab. Sie hatte Angst zu ersticken, atmete schwer.
„Nein, nicht…“
Ihre Stimme.
„Ja, so ist es schön“, flüsterte er.
„Nein…“
Warum versagte ihre Stimme?
„Du zitterst ja. Das musst du nicht. Viktor ist doch bei dir. Lass uns schwimmen, Lady.“
Ganz leise sprach der Mann.
So still hier.
Zu still.
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Dienstag, 13. Juli 2021
Wem gehört die Pressefreiheit?
Die folgende Geschichte ist ein kleines Zeitfenster mit Blick hinter die Kulissen der ZEIT im Jahre 1953. Der Vorfall ist dokumentiert in Gerd Bucerius: Der angeklagte Verleger, Notizen zur Freiheit der Presse. Ich habe mir die Freiheit genommen ihn literarisch zu bearbeiten.
Wem gehört die Pressefreiheit?
Die ZEIT nicht interessiert an Anzeigen?
Unglaublich.
Lebensversicherungsplan in der ZEIT sehr schlecht besprochen?
Wer hatte diesen Artikel geschrieben?
Er sprang auf, rannte im Zimmer hin und her, lief zum Schreibtisch zurück, nahm den Telefonhörer und drehte die Wählscheibe.
Bevor sich in der Redaktion jemand melden konnte, knallte er den Hörer auf die Gabel, nahm das Schreiben aus der Postmappe und während er im Zimmer umherging, las er noch einmal den Text:
‚Sehr geehrter Herr Doktor Bucerius,
Herr Generaldirektor Werner übergab uns Ihren Brief vom 14. Mai des Jahres, mit dem Sie darum bitten, daß unser Haus seine Finanzanzeigen auch in der ZEIT veröffentlicht.
Nun hat die ZEIT in ihrer vorletzten Ausgabe unseren neuen Lebensversicherungsplan 34c sehr schlecht besprochen. Ich nehme an, dass Sie unter diesen Umständen auch an Anzeigen unseres Hauses nicht interessiert sind.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Albert - Generalsekretariat’
Gerd Bucerius holte tief Luft. Das ging entschieden zu weit.
Eine Frechheit war das.
Er setzte sich zurück an seinen Schreibtisch und dachte nach.
Nein, mit der Redaktion wollte er jetzt nicht reden. Völlig unwichtig, wer den Artikel geschrieben hatte. Hier musste er als Verleger reagieren. Was hatten Anzeigen mit journalistischen Inhalten zu tun? Diese Unverfrorenheit einer Unternehmung gehörte an die Öffentlichkeit. Einen Artikel für die nächste Ausgabe würde er darüber schreiben. Dann könnte jeder mit eigenen Augen lesen, wie korrupt hier ein Unternehmen versuchte, Einfluss auf die Presse zu nehmen.
Er schraubte den Füllhalter auf und notierte seine Gedanken:
Wie wird ein Presseorgan finanziert?
Was sind die Aufgaben eines Verlegers?
Welche Freiheiten haben Redakteure und wo sind ihre Grenzen?
Können Verleger ihren Redakteuren vorschreiben, was sie schreiben?
Können Anzeigenkunden Verlegern vorschreiben, was ihre Redakteure zu schreiben oder nicht zu schreiben haben?
Wem gehört eigentlich die Pressefreiheit?
Er schraubte den Füllhalter zu und legte ihn zur Seite. Ein Unternehmen öffentlich bloßstellen? Ein Bumerang wäre das. Ein Artikel war doch nicht der richtige Weg. Schlechter Stil und nichts als Ärger wäre die Folge. Im Übrigen wäre es auch nicht klug, zumal in der jetzigen Situation. Die finanziell angeschlagene ZEIT benötigte dringend jede Mark. Denn da blieb immer noch die drückende Frage: Wie kommt die ZEIT aus ihrem finanziellen Loch heraus?
Einen Termin machen mit dem Generaldirektor und dem Chef der Werbeabteilung? Ein Gespräch führen? In Ruhe die Gegenseite anhören und sachlich seinen Standpunkt darstellen? Keine Verquickung der Kompetenzen von Verlag und Redaktion.
Doch…eigentlich selbstverständlich in demokratischen Strukturen. Wegen einer Selbstverständlichkeit sollte er zu Kreuze kriechen? Auf gar keinen Fall würde er das tun. Es würde sich bei den Unternehmungen herumsprechen und man würde immer wieder versuchen, ihn und seine Mitarbeiter unter Druck zu setzen. Die ZEIT brauchte zwar Geld und musste Anzeigen verkaufen, aber nicht um jeden Preis.
Einige Tage später hatte er die Antwort formuliert und bat seine Sekretärin zum Diktat:
‚Sehr geehrter Herr Albert,
freundlichen Dank für Ihren Brief vom 20. Mai. In Ihrem Hause ist es nicht ganz klar, dass Redaktion und Anzeigenabteilung einer Zeitung scharf getrennt sind. Damit sich solche Mißverständnisse nicht wieder ereignen, habe ich die Anzeigenabteilung der ZEIT angewiesen, Anzeigen Ihres Hauses nicht mehr entgegenzunehmen.“
(Kursiv gedruckte Textstellen sind zitiert aus: Gerd Bucerius: Der angeklagte Verleger, München 1974, S. 14-15)
©Renate Hupfeld 11/2006
Montag, 3. Mai 2021
Ruhe gibt es nicht
Das Telefon.
Nicht jetzt.
Jetzt nicht, Verena. Ich kann nicht telefonieren, das musst du einsehen. Heute nicht. Ich weiß, du wolltest nach dem Abendessen anrufen, das hattest du versprochen, es war auch so vereinbart. Vorher hast du es nicht geschafft, musstest lange arbeiten heute. Aber ich kann nicht. Ja, ja, extra große Buchstaben und Zahlen auf den Tasten, ich weiß. Alles wunderbar zu erkennen. So einfach jetzt. Das hast du richtig fein gemacht, sag ich doch. Eine wahre Perle bist du, kümmerst dich um alles. Du meinst es so gut, keine Frage. Aber es geht wirklich nicht.
Nicht jetzt.
Nicht heute.
Ob alles in Ordnung ist? Sicher, es geht mir gut. Sehr gut sogar. Glaube mir. Wunderbar geht’s mir. Gegessen? Was für eine Frage. Klar hab ich gegessen. Ein paar Zwiebäcke. Zum Kochen hatte ich gar keine Zeit heute. Morgen wieder. Ganz gewiss mach ich das morgen. Keine Panik. Ich weiß doch selbst, dass ich essen muss. Wenn ich leben will, muss ich essen. Getrunken hab ich auch, obwohl ich eigentlich gar keinen Durst habe. Den Rest von dem roten Saft, den du mitgebracht hast, ich weiß nicht mehr wann. Nein, du musst nicht vorbeikommen. Heute nicht. Auf keinen Fall heute. Mach dir keine Sorgen. Es ist alles hier, was ich brauche. Die Medikamente kannst du mir beim nächsten Mal mitbringen, für heute reichen sie auf jeden Fall, beste Verena. Wenn ich dich nicht hätte! Wäsche? Ja, ja, Nachthemd und Schlüpfer hab ich gewaschen, wie du gesagt hast, die Sachen liegen noch in der Badewanne. Ja, das Bücken. Nein, ich schaffe das schon allein. Morgen komme ich dazu, auswringen und auf den Wäscheständer hängen. Ich muss mich ja nicht beeilen. Zeit habe ich doch genug, den ganzen langen Tag. So viel Zeit. Ich passe schon auf, dass ich nicht wieder stürze. Seniorennotruf, höre ich dich wieder sagen. So ein technisches Ding um den Hals? Ich glaub’s dir wohl. Du kannst es aber auch nicht lassen. Immer wieder fängst du davon an. So weit bin noch nicht, noch lange nicht. Ich schaffe das noch gut alleine. Sogar sehr gut, das siehst du doch selbst.
Lege den Hörer auf, Verena, heute wird das nichts mit uns am Telefon.
Soziale Kontakte? Ha, dein Lieblingsthema! Soziale Kontakte! Die Formulierung liebst du wohl über alles. Denk doch mal nach! Ist denn noch einer da von der Kegelrunde und vom Canasta? Keiner mehr. Auch in der Straße. Keiner mehr da. Das weißt du ganz genau und fragst trotzdem immer wieder. Immer wieder dieses Thema. Wo sind sie denn, die sozialen Kontakte? Alle weg. Das hast du wohl ganz vergessen. Oder du willst es nicht wahrhaben. In anderen Dingen bist du doch so helle, aber an dem Punkt bist du begriffsstutzig. Schon mal die Totenglocke gehört? Heute wieder, ich wohne ja nahe genug am Friedhof. Sensenmann hat sie alle mitgenommen. Wer weiß, wohin. Wie oft muss ich dir noch erklären, was das bedeutet? Es bedeutet, ich habe nur noch dich, Verena. Nur dich und sonst niemanden. Wir telefonieren doch jeden Tag und du kommst vorbei, wenn ich das möchte. Das reicht mir völlig. Ich habe keine Langeweile. Der Fernseher ist da doch noch. Na gut, heute gibt’s kein gescheites Programm. Das kommt schon mal vor. Am Samstag gab’s meine zwei Freunde, so schnuckelig in ihren weißen Anzügen, hab ich dir doch erzählt. Das ist Musik für’s Herz. Ja, die CD war ein schönes Geschenk, aber noch besser ist es, wenn ich diese Amigos auch sehe. Meine Freunde. Wie sie mich anlächeln, als würden sie extra für mich singen, vor allem Karl-Heinz mit der Gitarre. Demnächst bin ich wieder dabei und klatsche mit. Heute nicht. Gib’s auf, Verena. Nein, nein und nochmals nein! Leg den Hörer auf. Zum Telefon kann ich jetzt nicht gehen. Wirklich nicht. Heute brauche ich mal Ruhe. Das musst du einsehen. Nichts als Ruhe. Endlich Ruhe. Das verstehst du doch. Ich weiß, dass du das verstehst.
Das Telefon ist still. Tante Käthe ist auf dem Klo, wird Verena denken. Später wird sie es noch einmal versuchen. Das kann eine Weile dauern, Verena ist hartnäckig. Doch Käthe wird auch später nicht telefonieren. Heute will sie nur noch ins Bett.
Sie versucht auf die Beine zu kommen, sackt aber immer wieder zurück in ihre Sofasitzkuhle, müsste dringend höher sitzen, damit sie von ihrem Fernsehplatz besser aufstehen kann. Ein Kissen auf dem Sofa wäre gut, so eins von diesen Keilkissen. Verena hat das schon vor Wochen vorgeschlagen, gestern erst wieder am Telefon. Sie hat sogar schon eins besorgt und wollte es eigentlich heute vorbeibringen, zusammen mit dem Toilettensitz, damit auch da das Hochkommen einfacher wird. Doch heute geht das auf gar keinen Fall. In ein paar Tagen vielleicht. Irgendwann einmal. Nicht heute. So wichtig ist das nicht.
Immer dieses Zittern.
Gestützt auf den Stock schleppt sie sich in die Küche. Die Beine machen nicht mehr mit, sie gehorchen einfach nicht. Ihre Nervchen, hat der Doktor gesagt. Was ist nur mit ihren Nervchen? Beruhigung braucht sie, ihre Pillen, damit endlich dieses Zittern aufhört.
Dieses verdammte Zittern.
Nicht nervös werden. Mit den Fingernägeln geht’s vielleicht. Warum hat sie den Verschluss nur so fest hineingedrückt gestern? Sie braucht doch diese verdammten Dinger, muss es schaffen. Unbedingt. Dabei auch noch den lästigen Stock festhalten, damit er nicht umkippt, auf die Fliesen fällt und sie dann stolpert, wenn sie ihn aufheben will, alles versucht, das aber trotzdem nicht schafft, vielleicht sogar das Übergewicht kriegt und dann wieder auf dem Küchenboden liegt, hilflos wie ein Käfer auf dem Rücken, so lange, bis ihr nach vielen Stunden jemand helfen kann. Vielleicht.
Wie soll das nur noch weiter gehen?
Demnächst sollte sie doch den Gehwagen benutzen. Sie wollte ihn eigentlich gar nicht in der Wohnung haben. Verena hat ihn trotzdem mitgebracht. Geschimpft hat sie mit ihrer Nichte, doch die war hartnäckig, hat ihn nicht wieder mitgenommen, sondern in die dunkle Ecke im Flur gestellt. So hartnäckig. Jetzt wäre er eine richtige Hilfe. Sie müsste ihn nicht die ganze Zeit festhalten wie den kippeligen Miststock oder mühsam irgendwo anlehnen, würde einfach die Bremse feststellen, damit er nicht wegrollt, könnte sogar im Korb etwas ablegen und sich jetzt kurz auf den schwarzen Steg setzen und alles in Ruhe machen. Und sie könnte endlich mal wieder eine Runde mit Verena spazieren gehen ohne Angst hinzufallen. Sorry, Verena, du hast recht gehabt. Vielleicht sollte ich über deine Idee mit dem Seniorennotruf auch mal nachdenken. Verzeih mir, du liebes hartnäckiges Kind. Es dauert manchmal sehr lange, bis ich etwas einsehe. Halsstarrig war ich schon immer, das hat deine Mutter auch immer geärgert. Es ist noch schlimmer geworden mit mir. Da bist du doch richtig geduldig. Dabei bist du auch nicht mehr die Jüngste. Ich sollte doch langsam vernünftiger werden. Sie ruckelt und zerrt am Verschlussdeckel, so kräftig, dass sie Angst hat, der wertvolle Schatz würde auf den Boden fallen. Ja nicht! Die Katastrophe wäre das. Der Deckel gibt nach. Endlich! Alles gut gegangen. Nur die Ruhe. Sie schüttet sich ein paar von den weißen Pillen in die zittrige Hand. Heute nimmt sie mal wieder zwei oder drei, oder auch mehr. Wunderbar!
Kurzgeschichte aus: Wenn wir von Liebe reden
Donnerstag, 15. April 2021
Er ist grün
„Bei dir ist es immer so schön, Oma. Darf ich in deinen Schrank gucken?"
„Du bist ja schon dabei, kleine Schmeichlerin.“
„Vielleicht finde ich wieder einen Schatz.“
„Pass nur auf, dass nichts herunter fällt, vor allem nichts, das zerbrechen kann.“
„Wie die Tassen hier, nicht wahr? Die sind gar nicht so wie bei Mama und Papa. Jede sieht anders aus.“
„Sammeltassen sind das. Die sammelt man. Jedenfalls hat man das früher gemacht.“
„So schöne Bilder drauf und viel Gold, bestimmt ganz wertvoll.“
„Ich weiß nicht, aber für mich sind sie sehr wertvoll.“
„Für mich auch, Oma, vor allem die mit dem grünen Vogel. Ich kann die Federn sogar fühlen. Darf ich die mal herausnehmen?“
„Ja, ja, aber ganz vorsichtig.“
„Wie schön er aussieht. Kann man aus den Sammeltassen auch trinken?“
„Sicher kann man das. Dazu sind sie ja eigentlich da.“
„Dann möchte ich aus dieser mit dem Vogel Kakao trinken.“
„Du kommst auf Ideen, meine Kleine.“
„Gute Ideen. Bleib nur sitzen, ich hole schon alles.“
Laura lief in die Küche und war flugs wieder da.
„Hier, Milch, Kakaopulver und zwei Löffel.“ Sie legte die Sachen auf dem Tisch ab und flitzte gleich wieder los, zum Schrank. „Ich hole noch eine Tasse für dich, Oma. Welche möchtest du?“
„Für mich? Ja, warum eigentlich nicht? Schau mal nach der mit der roten Rose. Die hat mir immer so gut gefallen.“
Laura musste nicht lange suchen. Schnell kam sie mit der Rosentasse zurück. „Lass nur, ich mach das schon“, sagte sie, als die Großmutter sich mit dem Schraubverschluss der Milchpackung abmühte, und bereitete die Getränke zu.
„Hier, siehst du? Rose und Vogel. Sogar mit Untertellern, rot für dich und grün für mich.“
Sie setzte sich neben Oma auf das Sofa und betrachtete zufrieden das Tassenpärchen.
„Wunderbar hast du das gemacht, mein kleiner Schatz. Wie geschickt du bist!“
„Du bist auch geschickt, Oma. Und weißt du, in was?“
„Was meinst du?“
„In Geschichten erzählen. Die sind immer so spannend. Bitte!“
„Du kannst betteln. Wer könnte dir widerstehen? Mir ist doch auch gerade wieder eine eingefallen.“
Laura rückte nah an Oma heran, als die zu erzählen begann.
„In einem Wald lebte einmal ein wunderbarer Vogel. Mit seinem samtgrünen Gefieder und den purpurroten seidigen Federn auf dem Kopf war er nicht nur wunderschön, er war auch der beste Flieger im Wald. Die anderen Vögel schauten zu, wenn er im Sonnenschein mitten auf der großen Lichtung die grünen Flügel ausbreitete, sich in die Lüfte erhob, ein paar Runden flog und elegant auf einem Baum landete. Er hieß König Grün. Du kannst dir ja vorstellen, warum.“
„Ja; klar. Lebte König Grün denn alleine oder hatte er eine Familie?“ Laura nahm Omas Hand.
„Er lebte sehr glücklich mit seiner Frau in ihrem gemütlichen Nest hoch oben im Baum und sie bekamen einen wundervollen Sohn. Der Vater lehrte den Kleinen alles, was so ein junger Vogel können musste.“
„Vor allem fliegen“, meinte Laura.
„Ja, vor allem fliegen, aber auch den Baumstamm hochklettern, Gefahren meiden und Nahrung finden, Würmer, Larven, oder auch Samenkörner. Jeden Morgen und jeden Abend speisten sie zu dritt auf der Wiese, den Jungen hatten sie in der Mitte. Dem sah man schon bald an, dass er einmal sehr schön werden würde.“
„Genau so schön wie sein Vater?“
„So richtig grün war er noch nicht. Das Gefieder war noch hell gesprenkelt, bekam aber allmählich einen grünlichen Schimmer. Der Kleine lernte sehr schnell und machte gute Fortschritte, vor allem im Starten und Landen. Daran hatte er so viel Spaß, dass er von morgens bis abends übte. Nach einigen Wochen war es dann so weit, dass er zusammen mit dem Vater eine kleine Runde fliegen und sicher auf dem Baum landen konnte. Jeden Tag flogen die beiden nun ihre Runden und wenn die Landung geglückt war, bekamen sie Applaus von den vielen anderen Vögeln im Wald. Und was meinst du wohl, wie die Mama und der Papa ihn nannten.“
„Prinz Grün“, rief Laura.
„Richtig, so nannten die Eltern ihn. Sie waren stolz auf Prinz Grün, der sich zu einem wahren Flugkünstler entwickelte. Immer mehr Vögel kamen und wollten ihn sehen, weil er noch höher flog als sein Vater. Manchmal stürzte er sich senkrecht herunter und zog kurz vor dem Boden noch einmal hoch. Davon konnten die Zuschauer gar nicht genug bekommen. Es sprach sich herum und Prinz Grün wurde die Attraktion des Waldes. Das war auf der einen Seite schön, doch auf der anderen Seite war es gar nicht gut, denn kurz darauf geschah etwas Schreckliches.“
Laura kuschelte sich noch enger an die Oma und drückte ihre Hand.
„Stell dir vor, Prinz Grün wurde immer mutiger, seine Runden immer größer und eines Tages kam er nicht mehr zurück.“
„So ein dummer Prinz! Warum hat er das gemacht?“
„Wohl, weil er seine Freiheit wollte.“
„Und wo war Prinz Grün dann?“
„In einen anderen Wald, ganz weit entfernt.“
„Und jetzt? Was machten Papa und Mama jetzt? Gingen sie ihn suchen?“
„Die Eltern wussten ja nicht einmal, wo der andere Wald war. Was sollten sie machen? Ihr Glück war zerstört. Sie waren verzweifelt, vor allem die Mutter. Die war so traurig, dass sie seitdem nichts mehr essen wollte. König Grün versuchte alles, um sie zu trösten, ging nur zum Nahrung suchen von ihrer Seite und brachte ihr die fettesten Würmer und Larven. Nichts half. Sie wurde immer schwächer und eines Morgens fand er seine Frau tot unter dem Baum liegen.“
„Da war er ja ganz alleine, der Arme“, sagte Laura.
„Ja, er fühlte sich sehr einsam, konnte sich über nichts mehr freuen und an Fliegen war bald gar nicht mehr zu denken. Selbst das Laufen fiel ihm von Tag zu Tag schwerer.“
„Er wurde ja auch immer älter, wie du, Oma. Hier, das Trinken nicht vergessen!“ Laura reichte ihr die Rosentasse und nahm selbst einen Schluck Kakao aus der Vogeltasse.
„Das kam noch hinzu. Mit dem Alter wurde er immer kraftloser, wie das eben so ist. Da er auch nicht mehr klettern konnte, musste er sein Nest im Baum aufgeben und legte sich nachts unter einen Strauch. Doch da hatte er schreckliche Angst vor den Füchsen und konnte überhaupt nicht mehr schlafen. Als er sein Elend gar nicht mehr ertragen konnte, verließ er den Wald.“
„Vielleicht findet er Prinz Grün, Oma.“
„An seinen kleinen Jungen dachte er natürlich die ganze Zeit. Wenn er nur gewusst hätte, wo er ihn finden könnte. Jedenfalls humpelte er erst einmal los, nur weg von diesem Ort wollte er. Unglücklicher konnte er ja gar nicht mehr werden. Der Weg führte über viele Felder zu einem Pfad am Flussufer, dann zu einem See. Am Abend fand er Unterschlupf im Schilf.“
„Und dann? Als es dunkel wurde? Hatte er wieder Angst?“
„Er war so müde, dass er sofort einschlief. Am nächsten Morgen schien sogar die Sonne. Zwischen den Pflanzen am Ufer fand er ein paar Larven zum Frühstück. Als er sich ein wenig gestärkt hatte, ging er weiter und kam auch einigermaßen gut voran, bis nach einer ganzen Weile seine Kräfte nachließen. Die Beine wollten nicht mehr so recht. Ja nicht aufgeben, dachte er, kämpfte sich durch das sumpfige Dickicht und schleppte sich weiter. Als es wieder Abend wurde und er einen Platz für die Nacht suchte, stand er plötzlich vor einem Zaun. Er schaute hindurch auf eine Wiese.“
„Nein!“, seufzte Laura.
„Keine Bange, mein Schatz. König Grün hatte es sehr gut angetroffen. Viele Vögel waren dort zum Abendessen versammelt, klein und groß, grau, schwarz, gelb, blau und rot. Es war der Garten einer alten Frau, die Tiere sehr liebte, und allen half, vor allem half sie denen, die in Not waren. Sie hatte ihn auch gleich entdeckt und ging, auf ihren Stock gestützt, zum Zaun. ‚Was bist du so ein schöner Grüner! Komm herein’, sagte sie und hob den Maschendraht ein wenig hoch, damit er hindurchschlüpfen konnte.“
Laura rannte zum Fenster.
„Oma, schau mal, da ist er schon auf der Wiese mitten zwischen den anderen und findet Würmer und Larven. Jetzt kann ihm nichts mehr passieren. Und sieh doch mal, wer da oben im Mirabellenbaum sitzt!“, rief sie ganz aufgeregt. „Der Prinz! Er ist grün!“
Sonntag, 21. März 2021
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kommt's echt blöd
regenwetter
und dann so was
wenn mir heute
eigentlich
eigentlich
ärgere ich mich
über mich selbst
war mir
zu sicher
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