Angie und Al
oder
Al Capone in Nadelstreifen und Black Lady
Als
sie die schwere Holztür öffnete und hineinging, sah sie wieder die traurigen
Gesichter. Für einen Augenblick wandten sie sich ihr zu. Doch inzwischen hatte
jeder hier kapiert, dass billige Anmache bei ihr nicht ankam und sie richteten
ihre Blicke gleich wieder auf die attraktive Wirtin, die das Bier zapfte und
ihnen die Drinks auf die Theke stellte.
Ein
Hauch von Wehmut stieg in ihr hoch, als sie sich auf den Barhocker setzte. Alina
dachte an ihren Mann. Der konnte jetzt gemütlich auf dem Sofa liegen und
fernsehen, inzwischen mit einer neuen Frau an seiner Seite. Doch wollte sie tauschen?
Nein. Die dörfliche Idylle vermisste sie nicht. Sie war stolz auf ihre kleine
Wohnung in der Stadt. Dafür nahm sie in Kauf, dass ihr abends schon mal die
Decke auf den Kopf fiel. Die Eckkneipe bot eindeutig die bessere Lösung als das
Sofa.
„Wein?“,
fragte die Wirtin mit einem kurzen Blick.
Alina
nickte und schaute in die Runde. Da stand einer mit einem auffallend roten Hemd,
den sie dort noch nie gesehen hatte. Auch er schaute sehnsüchtig, doch
verglichen mit den müden Augen seiner Nachbarn lag in den seinen ein Strahlen.
Er hatte weiche Gesichtszüge und lächelte zu ihr hinüber. Sie musste immer
wieder hinschauen. Langsam kam das Lächeln näher, bis der Mann sein Weinglas
neben das ihre stellte. Im ersten Moment war sie etwas erschrocken, doch dann spürte
sie eine Welle von Sympathie. Ihr gefiel das geschwungene Blumenmuster auf
seinem Seidenhemd und sie entdeckte, dass er sogar Make-up aufgelegt hatte, seine
langen Wimpern waren sorgfältig geschminkt. Ein seltsamer Typ. Doch niemand hier
schien an seinem Outfit Anstoß zu nehmen.
„Was
ist normal?“, fragte er.
Konnte
er in ihren Gedanken lesen?
„In
meinem Dorf wäre das nicht normal.“ Sie lächelte verlegen.
„In
Ihrem Dorf?“
„Da
könnten Sie nicht wie ein Paradiesvogel am Tresen stehen.“
„Stadtluft
macht frei. Schon im Mittelalter wusste man das“, lachte der Mann und erhob
sein Glas. „Lass uns auf die freie Luft trinken. Ich heiße Angelo“, fuhr er
fort und schenkte ihr einen unwiderstehlichen Blick aus seinen blauen Augen.
„Alina.“
Angelo
war noch näher gerückt. Sie wehrte sich nicht, als er seine Hand auf ihren
Oberschenkel legte.
„Deine
Dorfleute finden es auch nicht normal,
wenn eine junge Frau spätabends in der Kneipe mit einem Paradiesvogel Wein
trinkt“, sagte er.
„Außer
beim Maskenball“, überlegte Alina. „Am kommenden Samstag in der Turnhalle.“
„Ich
wette, du gehst hin.“
„Und
niemand wird mich erkennen.“
Alina
und Angelo redeten noch lange miteinander an diesem Abend. Sie erzählte von
ihrer Arbeit in der Grundschule, er sprach über die Sportredaktion bei der
Lokalzeitung. Sein Lieblingsthema aber waren Boutiquen für edle Kleidung und
seidene Unterwäsche. Da kannte er sich bestens aus. Sie fand das prickelnd.
Am
Samstagabend stellte sie das Auto auf einem spärlich beleuchteten Parkplatz ab.
Sie wollte nicht erkannt werden. Mit Blick in den Spiegel rückte sie die rote
Krawatte auf dem schwarzen Hemd zurecht. Die langen Haare hatte sie unter dem
Hut verschwinden lassen. Sie zog ihn bis über die Augen. Dann stieg sie aus und
strich die Anzughose glatt.
Ihr
Herz hämmerte, als sie dem Eingang näher kam. Da saß Otto vom Turnverein und
verkaufte ihr die Eintrittskarte. Er schaute sie prüfend an, aber erkannte sie
nicht. So konnte sie ganz unbesorgt in das närrische Treiben eintauchen. Erstaunlich,
wie entspannt sie als Mann alles betrachten konnte. Da waren aufgeregt
schwatzende Cleopatras, Spinnenweiber und Cocktail Bunnies am Tisch der Landfrauen,
bekannte Gesichter darunter. Am Nebentisch tummelten sich die Hexen und Mönche
vom Gesangverein, auch in diesem Jahr wieder maskiert. Sie könnte sogar eine der
Fratzen zum Tanz auffordern. Doch nach Hexentanz war ihr nicht.
Langsam
ging sie weiter. Ein mit Pailletten verziertes Dekolletee fiel ihr in die
Augen. Es gehörte zu einer schwarzen Grazie, die lässig an der Theke lehnte.
Silberfransen an fließendem Seidenstoff machten jede Bewegung der wohlgeformten
Beine mit. Unter der dunklen Lockenpacht funkelten lange goldene Ohrhänger.
Alina wurde unwillkürlich in ihre Richtung gezogen und blieb neben der rassigen
Schönheit stehen. Im gleichen Moment hatte sie ein Glas Sekt in der Hand.
„Al
Capone in Nadelstreifen.“ Das war die vertraute Bassstimme. Ebenso unverkennbar
die geschwungenen Wimpern im kunstvoll geschminkten Gesicht.
„Nenn
mich Angie.“
„Ich
bin Al“, prustete Alina.
„Alles
normal“, sagte Angie, beugte sich ein wenig hinunter und drückte Al einen
knallroten Schmatz auf den Mund. Ihre blauen Augen strahlten und lächelten
verschmitzt.
Al
trank das Glas leer.
„Komm
mit, Angie!“ Er zog seine Black Lady auf die Tanzfläche. Sie standen
voreinander. Tanzhaltung war angesagt. Lange probierten sie, bis er Angies Hand
in seiner Linken hielt und seine Rechte in der richtigen Position auf ihrem Rücken
lag.
„Wer
tanzt den Männerschritt?“, fragte er unsicher.
„Der
Mann. Wer sonst?“ Angie lachte schallend.
Klar,
doch so einfach war das nicht. Links rechts tadam oder rechts links tadam,
überlegte Al.
„Beim
Foxtrott beginnt der Herr mit links“, half ihm Angie.
Schon
nach den ersten Schritten schob Al gekonnt seine Dame über die Fläche. Er
schaute zu ihr hoch und stellte befriedigt fest, dass sie Oberkörper und Kopf
weit nach hinten beugte. Die Rechtsdrehung, die Linksdrehung, auseinander und
wieder zusammen. Sie tanzten, als hätten sie das einstudiert. Selbst der Tango
gelang. Al zählte leise mit: eins…zwei…drei vier fünf…sechs sieben acht und
eins… Er musste nur leicht die Finger bewegen, schon wusste seine Tanzpartnerin,
was sie zu tun hatte. Beim Walzer wirbelten sie in großen Kreisen an den
Tischen vorbei. ‚Alles normal, ihr Spießer’, dachte Al und registrierte gelassen,
wie viele Augenpaare auf sie gerichtet waren.
Als
Angies Make-up zu zerfließen begann und sein Bartschatten sichtbar wurde,
verloren sie nicht viele Worte. Hand in Hand gingen sie zum Parkplatz.
‚Niemals
will ich Spießer werden’, dachte Alina, als sie in Begleitung von Angelo mit
dem Fahrstuhl in den vierten Stock fuhr. So ein Appartement in der Stadt hatte
doch eine Menge Vorteile.
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