Pastor Sundermeier meint es ja gut, doch er kann mir nicht helfen.
Was versteht der schon? Überlege dir gut, was du tust, Holly, hat er gesagt.
Da ist nichts mehr zu überlegen, Herr Pastor. Ich habe mir das gut
überlegt und alles bestens vorbereitet. Es gibt keinen anderen Weg. Ich habe
getan, was ich konnte. Immer treu zu ihm gehalten, ihm aus der Patsche
geholfen, als er den Job verloren hatte, mich um den ganzen Scheiß in Haus und
Garten gekümmert, geputzt, gewaschen, eingekauft, gekocht, jeden Morgen seine
Sachen weggeräumt, Schuhe im Wohnzimmer eingesammelt, in den Schuhschrank
gepackt, seine Hemden gebügelt, Socken sortiert wie blöde. Wie er es wollte.
So, wie es sich gehört. Selbst diese neuen Boxershorts hab ich fein
zusammengelegt. Mehr geht nicht.
Was Manfred dazu sagt?
Nichts. Gar nichts. Wie denn auch? Midlife ist angesagt.
Verstehst du nicht?
Dachte ich mir. Mitternacht ist längst vorbei und der ist immer noch nicht in
seinem Bett. Das ist Midlife.
Wo er ist?
Fitnessstudio oder Tennis, was weiß ich denn? Mich geht das doch nichts an,
sagt er, und schon gar nicht seine Geschäftsreisen. München, Hamburg, Berlin
und Frankfurt. Ein ganz neues Outfit und Duftwasser hat er sich zugelegt,
Hemden nicht mehr von P & C, sondern von diesem Laden in der MyZeil. Der
stellt sich doch tatsächlich mit den Kids vor den Eingang mit den Sixpack
Beachboys, um sich das Zeug zu beschaffen. Was sagst du dazu, Pastorchen? Fast
fünfzig Jahre alt und wartet geduldig in der Schlange, wo allerhöchstens mal
Papas für ihre Kleinen Mitbringsel besorgen, zum Beispiel T-Shirts oder Hemden
mit diesem Label. Frei wie ein Vogel. So weit ist es mit ihm gekommen.
MyZeil kennst du nicht?
Woher auch? Macht ja nichts.
Neuerdings zieht es ihn auch in Diskotheken. Wahrscheinlich nicht alleine.
Interessiert mich gar nicht, mit wem er sein Spielchen treibt. Mit mir
jedenfalls nicht mehr.
Meine Phantasie geht mit mir durch?
Stimmt, geht sie, doch anders, als du es dir vorstellen kannst.
Durststrecke im Leben? Gute und schlechte Tage?
Hör auf mit diesem Durchhaltequatsch, kleiner Pastor. Du machst es dir einfach,
stellst dich auf die Kanzel und schaust in fromme Gesichter. Nichts gegen deine
Predigten, doch die sind in den Wind gesprochen. Du hörst auch nicht, wie sie
übereinander herziehen, hinterher, wenn sie das Gotteshaus verlassen, wo du
Nächstenliebe predigst. Wer weiß, was sie über mich reden. Und weißt du, was
mir klar geworden ist? Am Sonntag in der Kirchenbank knien und in das ewige
Licht glotzen bringt mir nichts.
Glotzen ist zu heftig?
Na gut, nehme ich zurück. Verklärt gucken trifft es auch. Ich jedenfalls nicht
mehr. Und was ich dir schon immer sagen wollte: Dein Landfrauenverein ist nicht
meine Welt. Radeln für einen guten Zweck hört sich zwar als Aufhänger im
Blättchen gut an, doch das geht auch ohne mich. Und Kuchen backen für den
Missionsbasar können sowieso andere besser. Ich bin keine Landfrau.
Vermitteln willst du, mit Manfred reden, ihn fragen, warum er in der Gegend
herumturnt, anstatt in seinem Hause bei Holly?
Vergiss es. Ich habe gearbeitet, wird er dir antworten. Lügen, alles Lügen.
Frag ihn lieber, warum er sich diesen verdammten Stress macht.
Du findest ihn ganz nett und glaubst ihm, dass er viel Arbeit hat?
Eigenartig. Alle, die ihn nicht kennen, finden ihn okay und charmant. Naiv bist
du, Sundermeier, kannst dir nicht vorstellen, dass er das Graue vom Himmel
runterlügt. Was verstehst du von Midlife?
Jetzt schweigst du.
Es kommt noch schlimmer. Mit mir hat das nichts zu tun, hat der gesagt.
Knaller, findest du nicht? Um sein Leben geht es, um nichts anderes. Das fließt
ihm unter den Händen weg. Und er hat nur eins. Ja, ja. Leben will er endlich.
Mit mir hat das gar nichts zu tun. Was sagst du dazu?
Ich soll nicht zynisch werden? Warum fragst du nicht, warum ich diesen
Schwachsinn jahrelang ertragen habe? Ich bin nicht zynisch, nur entschlossen.
Weißt du, was das heißt, Pastorchen? Ich hab auch nur ein Leben. Stell dir vor:
Mit dem mach ich, was ich will.
Trotzdem noch ein Gespräch versuchen?
Mach dich nicht lächerlich. Was glaubst du denn, wie viele Stunden ich am
Fenster auf diesen Nichtsnutz gewartet habe? Und wie viele Seiten meine dicke
Chinakladde dabei ertragen musste? Aus und vorbei. Ich weiß, was ich zu tun
habe.
Nicht alles wegschmeißen? Ich könnte es bereuen?
Was denn? Wo nichts ist, kann ich nichts wegschmeißen und da gibt’s auch nichts
zu bereuen. Und komm mir nicht mit Gottvertrauen. Den geht das schon mal gar
nichts an. Der soll sich raushalten aus meinem Leben. Okay?
Der wird die Sache schon in die richtige Bahn lenken, meinst du?
Ha! Ha! Du bist ja hartnäckig. Das sehe ich wie die Courage. ‚Der Mensch denkt:
Gott lenkt.’ Doppelpunkt anstatt Komma zwischen ‚denkt’ und ‚Gott’. Selbst die
Dinge in die Hand nehmen, denn von ‚Gott lenkt’ kann keine Rede sein, sagt sie,
die weise Courage.
Nie gehört? Brecht kennst du nicht? Auch gut.
Bis der Tod …?
Das musste ja jetzt noch kommen, wusste ich es doch. Dein letzter Trumpf. Du
ziehst aber auch alle Register. Mir ist schon klar, was du damit meinst. Ich
weiß, was ich zu tun habe, bin frei wie ein Vogel.
Du wirst für mich beten?
Wohlmöglich sogar in der Kirche. Ich höre sie schon tuscheln.
Die kleine Holly aus dem Neubaugebiet wirst du vermissen?
Ach, du bist ja süß. Ich dich auch. Good bye, Meierchen. Mein Taxi steht vor
der Tür. Bei Sonnenaufgang werde ich im Flieger sitzen, sieben Stunden später
in der U-Bahn nach Upper Midtown Manhattan und zum Frühstück bei Starbucks auf
der Second.
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