Hauptbahnhof Gleis fünf. Freitag Nachmittag. Trotz starker
Schneefälle fährt der Regionalexpress pünktlich ein. Ich finde einen
Fensterplatz in Fahrtrichtung. Den Trolley verstaue ich im Gepäckfach. Vor mir
auf dem Tischchen liegt mein Buch. Während der Fahrt werde ich mich auf das
Wochenend-Seminar vorbereiten. Franz Kafka. Neue Lesarten.
Winterlandschaft fliegt vorbei. Schneeflocken tanzen. Dächer
weißgepudert. Wäldchen mit blätterlosen Bäumen. Blasse Sonne will sich durch
das Himmelsgrau kämpfen. Grüner Kirchturm. Schneeberge mit sanft gewellten
Konturen. Kleiner Bahnhof.
An der Rezeption gibt es einen Schlüssel für Zimmer 406 im
Gästehaus. Man kommt nur mit einem Zahlencode in das Haus. In einem
Informations-Faltblatt ist er angegeben. Acht sieben vier drei. Das kann ich
mir merken. Ich krieg noch ein Stück Klebeband. Rosie Feldmann, steht drauf.
Ich hefte den Streifen gleich an meinen Pulli. Dann gehe ich ungefähr fünfzig
Meter bergab durch den Park. Mein Trolley rumpelt hinter mir über den
gepflasterten, schneegeräumten Weg. Das Zimmer liegt im Parterre. Erst einmal
ziehe ich die Vorhänge zur Seite. Vor meinem Fenster heißt mich das winterliche
Traumland willkommen.
Ich lege mich mit meinem Buch auf das Bett und lese noch
eine Geschichte. Ein undefiniertes Tier hat einen Bau eingerichtet. Endlose
Gänge, fünfzig Schlafplätze und einHauptplatz für die Lagerung von Vorräten.
Das Schönste sei die Stille, doch die sei trügerisch. Bedrohung durch
unsichtbare Feinde.
Nach dem Abendessen treffen sich die Teilnehmer des Seminars
im Raum dreizehn. Vorstellungsrunde. Referent Doktor Weinmann erläutert das
Thema für heute Abend. Die Assimilation des Affen Rotpeter.
„Rotpeter wird von einer Jagdexpedition der Firma Hagenbeck
an der Goldküste eingefangen und in eine Kiste gesteckt. Damit beginnt die
Assimilation.“
Mein Gegenüber rutscht auf seinem Stuhl hin und her. Er will
unbedingt etwas sagen und schnippst mit den Fingern. Rüdiger Baum, sagt der
Klebestreifen an seinem Jackett.
„Rotpeter hat keinen Ausweg. Muss ihn sich aber
verschaffen.“
Hat keinen Ausweg, muss ihn sich aber verschaffen. Herrlich.
Rüdiger hält sein aufgeschlagenes Buch in die Runde und liest eine gute
Viertelstunde lang aus Rotpeters Bericht für eine Akademie. Er spricht schnell,
laut, irgendwie erregt.
Ein Räuspern rechts von mir. Eine Teilnehmerin hat sich zu
Wort gemeldet. Es ist die junge Frau mit der hübsch angeordneten
Langhaarfrisur. Nach ihrem zweiten Räuspern wird es mucksmäuschenstill im Raum.
Mit samtiger Stimme redet sie.
„Welche Bedeutung hat die Schnapsflasche ...“
Gewichtige Worte. Schnapsflasche. Gut, der Gedanke. Jetzt
wird es interessant.
„... für die Assimilation Rotpeters?“
Aha. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Ganz neue
Lesart. Schnapsflasche und Assimilation, das muss ich mal auf mich wirken
lassen. Jetzt schnippst Rüdiger schon wieder mit den Fingern.
„Schnapsflasche ...“, sagt er, „... ist doch nur in
Verbindung mit Kultur möglich. Und Kultur nur in Verbindung mit reinem Affentum.“
Reines Affentum. Ich bin nur noch begeistert. Die anderen
Teilnehmer lauschen andächtig. Schon fährt Rüdiger fort.
„Ohne Affentum keine Kultur und ohne Kultur keine
Schnapsflasche.“
Wie Sahne dieser Satz. Schreib ich mir sofort auf.
Unerschöpfliches Feld für die Literaturforschung. Immer wieder schafft sie neue
Rätsel. Weiter, Rüdiger.
„Aber warum, frage ich mich, kann Rotpeter nicht auf sein
äffisches Vorleben zurückblicken?“
Äffisches Vorleben. Rüdiger wird mir immer sympathischer.
Seine Haare rechts und links des Mittelscheitels scheinen zu vibrieren, wenn er
mit gekonntem Pathos spricht. Zwei dunkle Augen blitzen in die Runde. Die
oberen Hemdenknöpfe sind aufgesprungen und vor Aufregung kratzt er sich in
seinen Brusthaaren.
„Und warum muss er sich in die Büsche schlagen? Das müssen
wir uns doch alle fragen.“
Einfach faszinierend. Komm, Rüdiger, du musst dich nicht in
die Büsche schlagen. Klopf auf den Busch. Seine Unterlippe bewegt sich erneut.
Wie tief er sie herunterzieht.
„Das Affentum Rotpeters wird uns wohl ein Rätsel bleiben.
Über die Folgen der Assimilation müssen wir nachdenken. Zeigt sich doch hier
die Dekadenz von Zivilisation.“
Das ist es. Rüdiger hat es auf den Punkt gebracht. Dekadenz
von Zivilisation. Auch Weinmann scheint begeistert.
„Das war ein würdiges Schlusswort, meine Damen und Herren.
Über den Zusammenhang von Affentum, Assimilation und Dekadenz von Zivilisation müssen wir
immer wieder neu nachdenken. Wir sehen uns Morgen nach dem Frühstück. Dann
untersuchen wir einen weiteren Text.“
Die Teilnehmer sitzen immer noch ergriffen in der Runde und
denken nach. Aber Rüdiger hält jetzt nichts mehr auf seinem Stuhl. Er springt
auf. Fuchtelt mit seinen langen Armen herum und rennt aus dem Raum. Mit einem
Satz springt er auf das Treppengeländer. Draußen wirbelt der Schnee, als er von
Baum zu Baum hangelt. Dann ist er im Gästehaus verschwunden.
Später stehe ich mit dem Schlüssel in der Hand vor dem
Gästehaus und komme nicht rein. Der
Türcode. Ich habe ihn vergessen. Und kein Faltblatt in der Tasche. Wird wohl
auf dem Tisch in meinem Zimmer liegen. So ein Mist. Wie war er noch mal?
Konzentriere dich, Rosie. Mit acht fing er an. Die zweite Zahl war eine
Nachbarzahl von neun. Noch mal acht? Kann nicht sein. Keine Zahl war doppelt.
Vielleicht neun. Und drei war auch drin. Ich probier es einfach. Acht neun drei
vier, tippe ich in das Tastenfeld. Kein öffnendes Klick. Noch ein Versuch. Die
Tür bewegt sich nicht.
Einige Fenster im Erdgeschoss sind erleuchtet. Ich gehe um
das Haus herum. Vor einem Fenster bleibe ich stehen und schaue hinein. Da.
Rüdiger. Auf allen Vieren kommt er aus der Dusche und springt auf eine
Stuhllehne. Mit seinem langen Arm rudert er zum Tisch und greift eine
Schnapsflasche. In einem Zug säuft er sie leer. Schleudert sie auf den Boden.
Dann läuft er wie wild um den Tisch herum und kratzt sich das Fell.
Oh, Rüdiger. Lass mich deine Schimpansin sein. Ich könnte
die Flöhe aus deinem Fell sammeln. Einen nach dem anderen würde ich zerdrücken,
dass es nur so knackt. Keinen würde ich übersehen.
Was ist das? Er springt auf mich zu. Ist er jetzt wütend?
Was will er? Er muss mich gesehen haben. Gleich wird er herausspringen.
Es ist dunkel im Park. Rüdiger war nicht wütend. Er kommt
jetzt raus zu mir. Komm, deine kleine Schimpansin wartet auf dich. Wieso ist
denn alles so voller Schnee? Schön weich, der Schnee. Und still ist es hier.
Überall Schlafplätze. Wir nehmen den unter dem niedrigen Baum. Da können wir
das ganze Schneefeld überblicken und sind sicher vor Feinden. Der Platz ist
groß genug für uns zwei. Komm schon, Rüdiger. Du bist ein freier Affe. Hast du
gehört? Fenster auf und raus aus der Kiste. Aber ich hab doch gerade ein
Geräusch gehört. Sitzt du auf dem Baum? Soll ich hochkommen? Ach du, lass das
Spielchen. Ich hab dich längst gesehen da oben. Komm runter. Wir kugeln uns im
Schnee den Abhang herunter. Richtig Spaß werden wir haben. Dann kraulst du mir
das Fell und ich knacke deine Flöhe. Bist du müde? Du willst auf dem Baum
schlafen? Ich bin auch müde. So müde ... im weichen Schnee...
©Renate Hupfeld 03/2003
Mehr Kurzgeschichten von Renate Hupfeld gibt es hier:
Wenn wir von Liebe reden
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