Dienstag, 19. Juni 2018

New York, New York


Oft habe ich mich gefragt, ob es Zufälle gibt. Inzwischen bin ich mir sicher, dass alles, was geschieht, einer unsichtbaren Ordnung folgt. Und jeden Tag sage ich mir, wie sinnvoll es war, trotz eines gewissen Risikos, ich könnte Sarah auf der Zielgeraden des New York City Marathons verpassen, an diesem grauen Morgen des ersten November gegen acht Uhr vom Hotel am Beekman Place in Upper Midtown Manhattan zur 42. Straße zu laufen, mit der U6 vom Grand Central Terminal bis zur City Hall zu fahren, von dort den Fußweg über die Brooklyn Bridge und auf der anderen Seite des East River den Weg durch den Park zu nehmen, in dem die Leute aus der Umgebung morgens ihre Hunde ausführen. Es war auch kein Zufall, dass ich an der U-Bahn-Station Court Street stehen blieb, den Stadtplan auffaltete und überlegte, wie ich zum ersten Treffpunkt gelangen könnte, den ich mit meiner Tochter vereinbart hatte. Hätte sie Aaron jemals kennen gelernt, wenn mich nicht an jenem Sonntag am Eingang eben dieser U-Bahn-Station in Brooklyn ein Mann mit Hund angesprochen hätte?

„Kann ich helfen?“, fragte er.
„Ich bin auf dem Weg zur Marathonstrecke, dem 8-Meilen-Punkt in der vierten Avenue. An welcher Station muss ich aussteigen?“
„Ah, ein Marathon Fan“, sagte der Mann. „Dahin können Sie gut laufen. Sie gehen geradeaus bis zur Atlantic Avenue, biegen links ab, dann ist es ungefähr noch eine Meile.“
„Und wie komme ich später dann möglichst zügig zur Queensboro Bridge? Da will ich nämlich als nächstes an die Strecke.“
„Mit der U-Bahn direkt von dort hinüber nach Manhattan, am besten mit der Expressbahn, sonst schaffen Sie es am Ende nicht rechtzeitig. Ich weiß ja nicht, wie schnell Ihr Favorit ist.“
„Ziemlich flott auf den Beinen. Dann will ich mal los.“

Obwohl ich mich bedankt und einen schönen Tag gewünscht hatte, ging der Mann neben mir und redete weiter.
„Fans an der Strecke sind wichtig. Ich vermute mal, Ihr Mann läuft mit und er freut sich über Ihre Unterstützung.“
„Meine Tochter ist dabei. Sie hat sich einen Wunsch erfüllt, zum Schulabschluss.“
„Oh, ist sie da nicht ein bisschen jung für so einen Lauf?“
„Achtzehn, das Mindestalter für die Teilnahme.“
„Halb so alt wie ich und schon so entschlossen, ein großes Ziel zu erreichen.“
Seltsame Gedanken hatte dieser Mensch. Wie lange wollte er noch neben mir gehen? Sein Hund trippelte schon ungeduldig vor meinen Füßen herum.
„Sorry.“
„Ist okay. Ich hatte auch mal so einen quirligen Vierbeiner. Der sah Ihrem sogar ähnlich.“
„Jetzt haben Sie keinen mehr?“
„Nein.“
„Und Kinder? Nur die Tochter?“
Obwohl seine Fragerei mich nervte, fand ich ihn nicht unsympathisch. Das Lächeln in seinen Augen gefiel mir, so ein ganz helles Lächeln war das, mir irgendwie vertraut. Was sollte ich ihm antworten?
„Nur Sarah“, sagte ich und eigentlich stimmte das ja auch. Wozu schmerzvolle Erinnerungen hochwühlen, die mehr als zwanzig Jahre zurücklagen? Gekämpft, verloren, geweint, neu begonnen, niemals vergessen. Wen interessierte das?
Ich wollte nun schnellstens zu unserem Treffpunkt. Nass und kalt sei es am Start auf Staten Island, hatte Sarah in der SMS geschrieben. Gerade kam eine weitere auf meinem Handy an. Ich zog es aus der Jackentasche und öffnete die Nachricht.
‚Bin in der Startaufstellung. Wir werden jetzt auf die Verrazano-Brücke gebracht. Kann nix mehr schiefgehen. New York, New York…’
Mich beruhigte jetzt vor allem, dass sie endlich in Bewegung kam. Schließlich war sie seit dem frühen Morgen unterwegs und sicherlich total durchgefroren.
„Sarah läuft jetzt los“, sagte ich.
„Ja, klar. Da sehen Sie schon den Turm am Ende der Straße. Dahin müssen Sie.“
„Danke, ich beeile mich.“
„Einen Moment noch“, sagte er. „Ich werde nachher an der Strecke ein paar Fotos für die Zeitung machen. Vielleicht haben Sie Interesse. Hier, nehmen Sie mein Kärtchen.“
Ich steckte es in die Jackentasche.
„Noch etwas! Hätten Sie vielleicht eine Adresse für mich oder noch besser, Ihre Mobilnummer?“
Ein paar Visitenkarten hatte ich noch im Portemonnaie. Ich gab ihm eine.
„Im Beekman Tower Hotel können Sie mich auch erreichen.“
“Das ist in der Nähe der Queensboro Bridge, sehr schöne Gegend, da hab ich gewohnt.“
„Queensboro Bridge ist mein nächster Punkt an der Strecke.“
„Ja, danke und viel Erfolg für Sarah“, sagte er noch und verschwand mit seinem Hund in der Seitenstraße.

Neben dem Turm fand ich einen prima Platz mit freiem Blick auf die vierte Avenue. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Läuferinnen und Läufer vorbei rannten Auf Sarah musste ich noch ein wenig warten. Dann sah ich sie inmitten einer Gruppe, das blonde Girl mit Pferdeschwanz in blauem Trikot. Sie lachte kurz in die Kamera und war auch schon vorbei. Mein „Go, Sarah, go!“ brauchte sie noch nicht. Doch es konnte noch eng werden, ein knappes Drittel der Strecke hatte sie erst hinter sich. Auch für mich gab es nun eine beachtliche Distanz zu überwinden, von Brooklyn nach Upper Manhattan. Für Schlange stehen bei „Dunkin’ Donuts“ blieb keine Zeit, ich wollte rechtzeitig am 16-Meilen-Punkt sein. Also kein Kaffee, sondern gleich weiter, mich anderen Marathon Hoppern anschließen, in die U4 treiben lassen, an der Lexington Avenue / Ecke 59. Straße aussteigen, von dort laufen zur First Avenue, diese nach Polizeianweisungen überqueren, unten an der Queensboro Brücke nur einen wackligen Platz in der dritten Reihe finden und Ausschau halten zwischen hunderten von Läufern, die dicht beieinander von der Brücke herunter in die Kurve rannten. Wo blieb Sarah? War sie etwa schon vorbei? Nach einer Weile erblickte ich sie dann, fast ein bisschen zu spät, doch für ein verwischtes Fotos reichte es. Kein Blickkontakt. Zehn Meilen hatte sie noch vor sich, zur Bronx und zurück, nicht viel bei ihrem Tempo. Inzwischen verstand ich noch besser, warum der Brooklynmann mir zur Eile geraten hatte, und lief sofort los. Je näher ich dem Central Park kam, umso heftiger wurde das Gedränge und Geschiebe, zumal man weiträumige Absperrungen umlaufen musste und vor jeder Straßenüberquerung von Polizisten angehalten wurde.
Nach etlichen Umwegen ergatterte ich ein winziges Plätzchen an der Zielgeraden in unvorstellbarer Enge. Jetzt noch zwischen wehenden Fahnen einen Blick auf die Strecke erwischen. Und da sah ich wieder die Läuferschlange an mir vorbeiziehen. So viele Gesichter, alte, junge, abgekämpfte, fröhliche, mehr oder weniger verschwitzte. Hunderte von Trikots in allen Farben. Den meisten Läufern sah man die 42 Kilometer wirklich nicht an. Meine Stimmung schwankte zwischen der Freude, nun in unmittelbarer Nähe dieses Events im Central Park dabei zu sein und der Sorge, Sarah sei vielleicht schon längst im Ziel. Als ich eine Nachricht von ihr erhielt, brauchte ich die Ellenbogen, um das Handy aus der Jackentasche zu fummeln. Alles klar. Noch eine Meile. Fotoapparat bereithalten und sie ein paar Minuten später in ihrem blauen Trikot hinter zwei weißen und inmitten einiger gelber und roter entdecken. Wieder kein Blickkontakt, doch Sarahs Lauf war glücklich beendet.
Sie hatte ein großes Ziel erreicht.  Doch das Highlight des Tages stand uns noch bevor. Hätte ich ahnen können, dass meine Begegnung mit dem jungen Mann, der mich einige Stunden zuvor ein Stück weit begleitet hatte, eine so unglaubliche Überraschung nach sich zog?

Während ich beim Eingang des Museums of Natural History auf eine Nachricht von meiner Tochter wartete, hielt ich plötzlich zusammen mit dem Handy die Visitenkarte des Brooklynmannes in der Hand, las und traute meinen Augen nicht. Das konnte nicht sein! Oder doch? Ich setzte mich auf eine Treppenstufe. Kein Zweifel. Der Mann mit Hund war Aaron. Sollte ich das jetzt begreifen? Wie ferngesteuert wählte ich seine Nummer. Ja, wir haben uns eine Menge zu erzählen, möglichst bald, sofort, ja, möglichst sofort, fürchterlich hektisch gerade hier, achtzehn Uhr, ja, ja, achtzehn Uhr ist gut, Bar im Hotel Beekman Tower, 26. Stock.
Sarah kam angehumpelt. Bevor ich ihr gratulieren konnte, schmiss sie sich auf die Stufe und packte ihre Beine auf meine Knie. Freudenumarmungen mussten warten. Ich ließ sie eine Weile verschnaufen, bevor ich mich um ein Taxi kümmerte, das uns zum Hotel brachte, wo nach kurzem Austausch Terminabsprache erst einmal jede zum Ausruhen in ihrem Zimmer verschwand.

„Heute ist nix mehr mit Laufen“, meinte Sarah, als wir fünf Minuten vor sechs im siebten Stock auf den Aufzug warteten, „höchstens zum Dinner über die First zum Grillrestaurant.“
„Du musst gar nicht mehr laufen. Dinner gibt’s heute im Hotel.“
„Wie, in dem teuren Laden da oben? Nur weil wir heute in einer Wahnsinnsstadt den Wahnsinn erlebt haben, musst du doch nicht verrückt spielen, Mama. Ist wohl alles ein bisschen viel für dich.“, empörte sich meine Tochter, während ich auf die 26 drückte und das Gefährt sich aufwärts bewegte. Ja, das war alles ein bisschen viel für mich. Wie sollte sie das auch verstehen?
„Heute gönnen wir uns das, Sarah, wir haben einen schönen kleinen Tisch mit Blick auf East River und Queensboro Bridge. Da bist du doch drüber gelaufen.“
„Ist mir schwer genug gefallen“, maulte sie, „beim Hochlaufen war ich nämlich drauf und dran aufzugeben. Ätzend, diese vielen Brücken auf der Strecke.“
Sie schüttelte den Kopf. „Mama, du bist von allen guten Geistern verlassen. In welchem Film bist du eigentlich? Der Blick auf die First Avenue reicht mir voll und ganz. Drüben an der Ecke will ich ganz banal mein gegrilltes Lamm mit gegrilltem Gemüse essen.“
 „Das kannst du oben auch tun. Und jetzt beruhige dich. Es gibt Dinge, die muss man hinnehmen.“
Vielleicht hätte ich mich besser erst einmal allein mit Aaron treffen sollen, doch das ging doch heute gar nicht. Insofern war es schon okay. Da öffnete sich schon die Aufzugtür und im selben Moment sah ich ihn an einem der Stehtischchen auf dem Barhocker sitzen. Er hatte mich auch sofort erblickt, sprang auf, kam auf mich zu und nahm mich in die Arme. Ich drückte ihn an mich und wünschte in dem Moment, die Zeit bliebe stehen. Sein Gesicht, diese Augen, das unverwechselbare Lächeln. Ja, so kannte ich meinen kleinen Liebling. Mein Herz hüpfte und hüpfte, wollte gar nicht mehr aufhören
„Ich bin Aaron“, sagte er zu Sarah gewandt, nahm ihre Hände in seine und schaute sie lange an. Einen Moment lang war sie verdattert, doch dann kombinierte sie blitzschnell: „Aaron? Der Aaron?“
Ihr Blick wechselte von ihm zu mir. Ich nickte.
“Dann bist du der süße kleine Junge auf den Fotos. Aaron in der Badewanne, Aaron bei seinen ersten Schritten, mit Schultüte und auf der Skipiste. Mann, ich fass es nicht.“
Ich ließ keinen Blick von meinen Kindern, konnte mich gar nicht satt sehen. Mein kleiner Junge war ein Mann geworden, mit Männerstimme und Bart und meine kleine Powerprinzessin hatte einen großen Bruder bekommen.

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